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Der rasende ReporterOverlay E-Book Reader

Der rasende Reporter

Egon Erwin Kisch

E-Book (EPUB)
2019 Books On Demand
Auflage: 1. Auflage
357 Seiten
ISBN: 978-3-7494-5078-7

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Kurztext / Annotation
Besonderer Service durch E-Book-Kauf: Für die Buchung einer exklusiven Diskussionsrunde bzw. Lesung mit dem Herausgeber, Fragen, Wünschen oder Anmerkungen schreiben Sie eine E-Mail an books.gabrielarch [at] t-online.de. Der rasende Reporter von Egon Erwin Kisch ist das wichtigste Reportageband, welches der Neuen Sachlichkeit zugeordnet wird, mit exakter Beschreibung des damaligen Zeitkolorits und der Milieus (Unter den Obdachlosen von Whitechapel, Mit Auswanderern durch Frankreich, Generalversammlung der Schwerindustrie), der Darstellung von historischen Untersuchungen (Nachforschungen nach Dürers Ahnen), nicht alltäglichen Orten (Hochschule der Taschenspieler, Eines Scharfrichters Lebenslauf) sowie Kriminalfällen (Raubmord im Hotel Bristol, Wie der Einbrecher Breitwieser erschossen wurde).

Egon Erwin Kisch (1885-1948) war ein deutscher Journalist, Reporter der Neuen Sachlichkeit, Schriftsteller, Kommunist, Jude und bezeichnete sich selbst als Weltbürger. Erst durch ihn erlangte die Reportage als literarische Form große Anerkennung. Er leistete früh einen bedeutenden Beitrag zum investigativen Journalismus (Spionageaffäre um Oberst Alfred Redl). Er veröffentlichte historische Werke wie beispielsweise sein Tagebuch aus dem Ersten Weltkrieg (Schreib das auf, Kisch!) und Reportagebände (u.a. Der rasende Reporter, Hetzjagd durch die Zeit, Paradies Amerika). 1945 erschien sein letztes Werk Entdeckungen in Mexiko.

Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

Unter den Obdachlosen von Whitechapel

Auch die Männer und Burschen, die in schmutzigen Fetzen in den Haustoren und Fenstern der Lumpenquartiere Ostlondons zu sehen sind, sind schon bedauernswert genug. Aber sie haben wenigstens ihre Schlafstelle, sie haben doch das Glück, sich in den niedrigen Stuben mit einigen andern Schlafgenossen auf den Fußboden betten zu dürfen, sie haben also immerhin ein Heim. Sie sind reich gegen die Obdachlosen, die sich müde durch die Schlammdistrikte schleppen; hoffnungslos hoffen sie, von den anderen Armen einige Pence zu kriegen, damit sie nicht auf dem Embankment an der Themse im Froste nächtigen müssen.

Und diese Allerelendsten der Elenden sind noch in Gesellschaftsschichten geteilt, noch unter diesen Obdachlosen bestehen Vermögensunterschiede. Wer sieben Pence erbettelt hat und sie für das Nachtlager zu opfern bereit ist, kann in einem der fünf Lord Rowton Lodging Houses oder in einem der vom Londoner County Council errichteten Bruce Houses ein Kämmerchen mit Bett und Stuhl mieten; wem der Tag nur sechs Pence beschert hat, kann im Volkspalast Logis beziehen und sich bei etwas Phantasie in einen Klub versetzt glauben. Allein wer selbst diese spärliche Zahl von Pfennigen am Abend nicht beisammen hat und gar nicht daran denkt, in den "Casual Wards" das bißchen Nachtquartier am Morgen mit harter Steinklopfarbeit zu bezahlen, der zieht in eines der acht Londoner Heilsarmee-Nachtasyle, von denen natürlich das Whitechapler die traurigsten Gäste beherbergt. Allabendlich wankt ein Zug mühselig, schmutzstarrend, frierend, altersschwach und notgebeugt in die Middlesex Street, die am Sonntag der Tandelmarkt mit lautem Gewoge erfüllt. Hier steht an einer Straßenecke das Asyl der Heilsarmee. Mein Kostüm war mir fast übertrieben zerfetzt erschienen, als ich es angelegt hatte. Ein Blick auf meinen Nachbar belehrte mich eines Besseren. Der Mann, der hier vor der Eingangstür in seinen Lumpen den Dienst eines Heilsarmee-Funktionärs versah, hielt mich auch noch der Frage wert: "Bett oder Pritsche?"

"Um drei Pence."

"Also Pritsche. Die Treppen hinunter."

So steige ich denn die Stufen zur Unterwelt hinab, während die Reichen, die im Vermögen von fünf Pence waren, es sich oben im Schlafsaal gut gehen lassen können. Am eng vergitterten Schalter, wo mein Name in das Logierbuch eingetragen wird, bezahle ich meine Miete und erhalte eine Quittung darüber mit der Bettnummer 308 zugewiesen. Dann trete ich in den Versammlungssaal ein: ein dreieckiger, großer Kellerraum, von Reihen grob gezimmerter Bänke erfüllt. An der Wand ein Podium mit einem von Wachsleinwand bedeckten Harmonium - anscheinend ist der Abendgottesdienst schon vorbei. Die Kellerdecke ist von sechs Eisenträgern gestützt, längs der Wand verlaufen Heizröhren.

Was die Stadt in ihren tiefsten Abgründen nicht mehr zu halten vermochte, was selbst Whitechapel, dieses Asyl der Desperados aller Weltteile, nicht mehr aufzunehmen gewagt hatte, was zu Bettel und Verbrechen nicht mehr geeignet ist, scheint hier abgelagert worden zu sein. Da sitzen sie und verderben die warme Luft. Der eine schnallt seinen Holzfuß ab und lehnt ihn an die Bank. Der andere macht Inventur, einige hundert Zigaretten- und Zigarrenstummel neben sich ausbreitend. Einer holt aus seinem Schnappsack die Dinge hervor, die er wahllos aus dem Rinnstein aufgelesen: Stücke alten Brotes, den Rumpf einer Puppe, zusammengeballte Zeitungen (er glättet sie sorgfältig), den Rest einer Brille, das Rudiment eines Bleistiftes. Einer bindet sein Bruchband zurecht, einer wickelt seine Fußlappen ab, einer verdaut hörbar - alle Sinne werden gleichzeitig gefoltert.

Die Mehrzahl der Gäste sind Greise, mit grauen Haarsträhnen, zerzaustem Bart und Augen, die sich nicht mehr zu der Arbeit aufraffen können, einen Blick zu tun. Teilnahmslos starren sie ins Leere. Nur wenn ein Essender oder etwas Eßbares in den Bannkreis dieser Augen kommt, flackert in den ma