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Unter der DrachenwandOverlay E-Book Reader

Unter der Drachenwand

Roman | Arno Geiger

E-Book (EPUB)
2018 Carl Hanser Verlag München
Auflage: 1. Auflage
480 Seiten
ISBN: 978-3-446-25938-6

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€ 12,99

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Kurztext / Annotation
Veit Kolbe verbringt ein paar Monate am Mondsee, unter der Drachenwand, und trifft hier zwei junge Frauen. Doch Veit ist Soldat auf Urlaub, in Russland verwundet. Was Margot und Margarete mit ihm teilen, ist seine Hoffnung, dass irgendwann wieder das Leben beginnt. Es ist 1944, der Weltkrieg verloren, doch wie lang dauert er noch? Arno Geiger erzählt von Veits Alpträumen, vom 'Brasilianer', der von der Rückkehr nach Rio de Janeiro träumt, von der seltsamen Normalität in diesem Dorf in Österreich - und von der Liebe. Ein herausragender Roman über den einzelnen Menschen und die Macht der Geschichte, über das Persönlichste und den Krieg, über die Toten und die Überlebenden.

Arno Geiger, 1968 geboren, lebt in Wien und Wolfurt. Sein Werk erscheint bei Hanser, zuletzt Alles über Sally (Roman, 2010), Der alte König in seinem Exil (2011), Grenzgehen (Drei Reden, 2011), Selbstporträt mit Flusspferd (Roman, 2015) und Unter der Drachenwand (Roman, 2018). Er erhielt u. a. den Deutschen Buchpreis (2005), den Hölderlin-Preis (2011), den Literaturpreis der Adenauer-Stiftung (2011), den Alemannischen Literaturpreis (2017), den Joseph-Breitbach-Preis (2018), den Bremer Literaturpreis (2019) und den in den Niederlanden vergebenen Europese Literatuurprijs (2019).

Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

Im Himmel, ganz oben

Im Himmel, ganz oben, konnte ich einige ziehende Wolken erkennen, und da begriff ich, ich hatte überlebt. / Später stellte ich fest, dass ich doppelt sah. Alle Knochen taten mir weh. Am nächsten Tag Rippfellreizung, zum Glück gut überstanden. Doch auf dem rechten Auge sah ich weiterhin doppelt, und der Geruchssinn war weg.

So hatte mich der Krieg auch diesmal nur zur Seite geschleudert. Im ersten Moment war mir gewesen, als würde ich von dem Krachen verschluckt und von der ohnehin alles verschluckenden Steppe und den ohnehin alles verschluckenden Flüssen, an diesem groben Knie des Dnjepr. Unter meinem rechten Schlüsselbein lief das Blut in leuchtenden Bächen heraus, ich schaute hin, das Herz ist eine leistungsfähige Pumpe, und es wälzte mein Blut jetzt nicht mehr in meinem Körper im Kreis, sondern pumpte es aus mir heraus, bum, bum. In Todesangst rannte ich zum Sanitätsoffizier, der die Wunde tamponierte und mich notdürftig verband. Ich schaute zu, in staunendem Glück, dass ich noch atmete. / Ein Granatsplitter hatte die rechte Wange verletzt, äußerlich wenig zu sehen, ein weiterer Splitter steckte im rechten Oberschenkel, schmerzhaft, und ein dritter Splitter hatte unter dem Schlüsselbein ein größeres Gefäß verletzt, Hemd, Rock und Hose waren blutgetränkt.

Das unbeschreibliche, mit nichts zu vergleichende Gefühl, das man empfindet, wenn man überlebt hat. Als Kind der Gedanke: Wenn ich groß bin. Heute der Gedanke: Wenn ich es überlebe. / Was kann es Besseres geben, als am Leben zu bleiben?

Es passierte in genau derselben Gegend, in der wir um die gleiche Zeit vor zwei Jahren gestanden waren. Alles hatte ich gut in Erinnerung, ich erkannte die Gegend sofort wieder, die Wege, alles immer noch dasselbe. Aber besser waren die Wege seither nicht geworden. Wir lagen neben einem zerstörten Dorf, die meiste Zeit unter Beschuss. In der Nacht war es schon so kalt, dass uns das Wasser im Kübel gefror. Auch auf den Zelten lagen Eiskrusten. / Unser Rückzugsmarsch war ein einziger Feuerstreifen, schauerlich anzusehen. Und ernüchternd, sich darüber Gedanken zu machen. Alle Strohschober brannten, alle Kolchosen brannten, gerade die Häuser blieben meistenteils stehen. Die Bevölkerung sollte nach rückwärts evakuiert werden, doch ließ sich das nur teilweise durchführen, zum Großteil waren die Leute nicht wegzubringen, es war ihnen egal, ob man sie erschoss, aber weg wollten sie auf gar keinen Fall.

Und der Krieg arbeitete sich weiter, für die einen nach vorn, für die andern nach hinten, aber immer in der blutigsten, unverständlichsten Raserei.

Noch am Tag der Verwundung wurde ich mit dem Krankenwagen weggebracht. Wenn nicht ein großer LKW zur Begleitung abgestellt worden wäre, wären wir im Schlamm steckengeblieben, gleich draußen vor dem Dorf. So ging's bis zum Hauptverbandplatz, wo ich einige grobe Nähte bekam. Ich schaute beim Vernähen zu, erneut mit größter Verwunderung. / Die Wäsche, die ich Ende Oktober angezogen hatte, hatte ich fast einen Monat am Leib gehabt, das Hemd war buchstäblich schwarz, als es mir ausgezogen wurde.

Ich sah einen Arzt, der beim Versuch, sich eine Zigarette anzuzünden, fünf Streichhölzer abbrach. Mit hängendem Kopf stand er da, bis eine Rot-Kreuz-Schwester kam und ihm die Streichhölzer aus der Hand nahm. Nach zwei Zügen, die er lange mit geschlossenen Augen in der Lunge gehalten hatte, stieß der Arzt ein paar Wortfetzen aus und taumelte zwischen den blutigen Liegen davon.

Zwei Tage später fuhren wir weiter. Einmal wären wir bald umgekippt mit unserer Karre, wir waren in einen zuvor nicht sichtbaren Graben gerutscht. Als die andern den Wagen wieder heraus hatten, war vor und hinter uns der Weg zu, denn es hatte starker Schneefall eingesetzt. Für neun Kilometer brauchten wir den ganzen Vormittag, weil der Weg freigeschaufelt werden musste, hinter uns war der Weg dann besser. Aber ich spürte