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Geschwister

Die längste Beziehung des Lebens | Susann Sitzler

E-Book (EPUB)
2014 Klett-cotta
Auflage: 4. Aufl.
352 Seiten
ISBN: 978-3-608-10732-6

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Kurztext / Annotation
Geschwister prägen unser Leben viel mehr, als uns bewusst ist. Welche Facetten unseres Ichs wir kultivieren, wie wir uns in der Gesellschaft positionieren, welche Partner uns gefallen - unsere gesamte Identität hängt auch mit unseren Geschwistern zusammen. Mit Geschwistern lernen wir nicht das Teilen. Nein, wir lernen das Verhandeln und die Grenzen unserer Macht zu akzeptieren. Mit Geschwistern erfahren wir das erste Mal, was Gerechtigkeit bedeutet. Nicht durch unseren Edelmut, sondern durch den wütenden Zorn in uns, wenn wir uns übervorteilt fühlen. Im sozialen Trainingscamp der Familie lernen wir auch unsere Rollen einzunehmen und fast nichts kann uns davor schützen, auch als Erwachsener wieder der große Bruder zu sein, der alle Schläge abfängt, oder die kleine Schwester, der niemand etwas zutraut. Die Vielfalt der hier versammelten Geschwistergeschichten, ergänzt um die Erkenntnisse der Geschwisterforschung, macht es leicht, sich selbst tiefer zu verstehen, gleich ob man mit oder ohne Geschwister aufgewachsen ist.

Susann Sitzler, geboren 1970 in Basel, lebt als freie Journalistin und Autorin seit 1993 in Berlin. Reportagen, Porträts und Rundfunkfeatures etwa für 'Die Zeit', 'Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung', 'Merian' und 'Deutschlandradio Kultur', zahlreiche Buchveröffentlichungen. Aufgewachsen als Halb-, Stief- und leibliche Schwester - und als Einzelkind.

Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

Arthur

Heute vor drei Jahren ist mein Bruder Arthur gestorben. Er ist eine Treppe hinuntergefallen und hat sich dabei den Schädel gebrochen. Ich erfuhr es an einem Samstagmorgen. Als die SMS kam mit der Bitte um Rückruf, ahnte ich gleich, dass etwas Schlimmes passiert war. In der Nacht hatte ich geträumt, dass ein Freund von mir ums Leben kam.

Als Arthur mein Bruder wurde, war ich acht und er elf Jahre alt. Davor besuchten seine Eltern meine manchmal zum Essen und umgekehrt, und wir spielten zusammen. Aber daran erinnere ich mich kaum. Dann zog mein Vater mit einer anderen Frau in eine andere Stadt. Nicht viel später verließ Arthurs Mutter in einer verschneiten Winternacht nach einem Streit ein Ferienhaus in den Bergen und kam nicht wieder. Erst im Frühjahr darauf fand man sie in einer Schlucht.

Nach etwas mehr als einem Jahr zog meine Mutter zu Arthurs Vater nach Ringen. Auch für mich wurde Platz gemacht. Ich bekam das Gästezimmer. Die beiden waren der Ansicht, dass diese Lösung für alle die beste sei. Meine Mutter könnte im Haus nach dem Rechten sehen und sich um Arthur und seinen Bruder Gregor kümmern, während der Vater arbeitete. Ich könnte mit den Jungen spielen und ihr im Haus zur Hand gehen. Damit wir uns aneinander gewöhnten, trafen wir uns vorher eine Weile fast jedes Wochenende zu Ausflügen und Wanderungen. Wenn wir danach in einem Restaurant einkehrten, durften wir Kinder essen, was wir mochten, und so oft Getränke nachbestellen, wie wir wollten. Arthurs Vater hieß für mich jetzt Berni. Auch die Jungen nannten meine Mutter mit ihrem Vornamen, Lina. Nach dem Essen spielten Arthur, Gregor und ich Detektiv, Disco oder Fangen, und diese Sonntage gingen immer schnell vorbei.

Eines Nachmittags, als ich aus der Schule kam, rief mich meine Mutter dann ins Wohnzimmer und sagte, dass wir in den kommenden Herbstferien nach Ringen ziehen und dass ich nach den Ferien dort zur Schule gehen würde. Damit hatte ich nicht gerechnet. In den Tagen danach weinte ich um meine beste Freundin, die ich in der alten Klasse zurücklassen musste. Dann schwor ich in hilfloser Wut, Berni in Zukunft nur noch »Herr Ballmer« zu nennen wie früher, und ihn wieder zu siezen. Er war mir nie geheuer gewesen.

Unser Name wurde in Ringen nicht an den Briefkasten des Hauses geschrieben. Aber Berni informierte die Briefträgerin, dass sie Post für uns in Zukunft bei ihm einwerfen könne. Am Esstisch wurde ein Platz für mich freigemacht. Die Jungen und ich fügten uns ins Unvermeidliche und stritten nur am Anfang. Nach und nach führte meine Mutter ein paar neue Kochrezepte ein, die kommentarlos akzeptiert wurden.

Das Tischgespräch dominierte meist Arthur, und ich war bald Sekundantin. Wir waren beide schnell mit Worten, und in Arthur fand ich jemanden, der sich für ähnliche Dinge interessierte wie ich: Musik, Tiere, Fernsehen. Gregor nahm immer weniger an den Gesprächen teil, aber das bemerkten wir damals nicht. Die verstorbene Frau wurde nur selten und beiläufig erwähnt. Mein Vater so gut wie nie. Ich glaube, Arthur war froh, dass ich jetzt da war. Mit Gregor hatte er sich nie besonders gut verstanden. Obwohl Gregor jünger war, war er viel größer und schwerer und zwang Arthur immer, sein Bett für ihn zu machen und ihm auch die anderen Haushaltsämtchen abzunehmen. Wenn Arthur sich weigerte, nahm Gregor ihn so lange in den Schwitzkasten, bis er um sein Leben fürchtete.

Nach ungefähr einem Dreivierteljahr lag ich an einem Samstagnachmittag mit Fieber im Bett. Die Erwachsenen waren in der Stadt zum Einkaufen, Arthur und Gregor bei den Pfadfindern. An der Haustür hörte ich Stimmen, und nach



Susann Sitzler, Jg. 1970; Studium der Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte in Basel; journalistische Arbeit seit 1993; lebt seit 1996 als freie Printjournalistin und Radioautorin in Berlin; Reportagen und Porträts für Printmedien, publizistische Beiträge in Anthologien, Features und Reportagen für DeutschlandRadio Berlin, Schweizer Radio DRS u.a.