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Rote KreuzeOverlay E-Book Reader

Rote Kreuze

Sasha Filipenko

E-Book (EPUB)
2020 Diogenes
Auflage: 2. Aufl.
288 Seiten
ISBN: 978-3-257-61010-9

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Kurztext / Annotation
Alexander ist ein junger Mann, dessen Leben brutal entzweigerissen wurde. Tatjana Alexejewna ist über neunzig und immer vergesslicher. Die alte Dame erzählt ihrem neuen Nachbarn ihre Lebensgeschichte, die das ganze russische 20. Jahrhundert mit all seinen Schrecken umspannt. Nach und nach erkennen die beiden ineinander das eigene gebrochene Herz wieder und schließen eine unerwartete Freundschaft, einen Pakt gegen das Vergessen.

Sasha Filipenko, geboren 1984 in Minsk, ist ein belarussischer Schriftsteller, der auf Russisch schreibt. Nach einer abgebrochenen klassischen Musikausbildung studierte er Literatur in St. Petersburg und arbeitete als Journalist, Drehbuchautor, Gag-Schreiber für eine Satireshow und als Fernsehmoderator. Sein Roman ?Die Jagd? war ein ?Spiegel?-Bestseller. Sasha Filipenko ist leidenschaftlicher Fußballfan und wohnte bis 2020 in St. Petersburg. Er musste mit seiner Familie Russland verlassen und lebt in der Schweiz.

Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

Als die Unterschrift gesetzt ist, sagt die Frau (die so sonderbar ist wie alle Immobilienmakler):

»Gratulation! Ich freue mich sehr für Sie. Schauen Sie doch nicht so finster, Sie haben von mir das bestmögliche Preis-Leistungs-Verhältnis gekriegt!«

Die Maklerin zieht einen Lippenstift aus ihrer Handtasche und spricht mit ihrer tiefen Stimme weiter, ohne auf die nunmehr ehemalige Besitzerin zu achten:

»Für uns beide ist das eine echte Win-win-Situation! Mit wem werden Sie eigentlich hier wohnen?«

»Mit meiner Tochter«, antworte ich und blicke hinaus auf den Kindergarten im Hof.

»Wie alt?«

»Drei Monate.«

»Wie süß! Eine junge Familie! Glauben Sie mir, Sie werden mir noch dankbar sein.«

»Wofür?«

»Was heißt, wofür? Ich hab's Ihnen doch erzählt! Sind Sie aber vergesslich. Auf Ihrem Stockwerk gibt es nur eine einzige Nachbarin. Und die ist neunzig Jahre alt, alleinstehend und leidet an Alzheimer. Das ist doch der absolute Jackpot! Freunden Sie sich mit ihr an, dann gehört die Wohnung Ihnen.«

»Danke!«, sage ich, ohne sie anzusehen.

 

Die Wohnung ist leer. Kein Stuhl, kein Bett, kein Tisch. Ich packe meine Tasche aus. Die ehemalige Besitzerin kann sich nicht losreißen. Sie steht am Fenster, hängt Erinnerungen nach und glättet, als würde sie Wäsche bügeln, die Fältchen im Lack des Fensterbretts. Sinnlos, ich mache hier sowieso alles neu.

»Bleiben Sie heute allein hier?«

»Ja.«

»Und wo werden Sie schlafen?«

»Ich habe einen Schlafsack und einen Wasserkocher ...«

»Wenn Sie möchten, kommen Sie mit zu mir.«

»Nein.«

 

Die Maklerin kapituliert. Ich bin zu jung für sie. Sie hakt die frühere Besitzerin unter und verlässt mit ihr die Wohnung. Ich bleibe allein zurück und setze mich auf den Boden.

Das war's, denke ich, Vorhang. Ein Leben ist zu Ende - und ein anderes Leben beginnt. Eine transzendente Null. Mit meinen dreißig Jahren bin ich nun ein Mensch mit entzweigerissenem Schicksal. Ich darf es noch einmal versuchen. Was ist dagegen schon einzuwenden. Selbstmord ist nicht mein Ding; außerdem habe ich jetzt eine Tochter.

Ich weiß kaum noch, woran ich an jenem Abend gedacht habe. Nebel im Kopf, und Staub, der in einem Lichtstrahl tanzt. Mehr ist hier nicht. Eine Stunde Pause, Atemholen vor dem nächsten Versuch zu leben. Die erste Geschichte vorbei, die zweite in den Startlöchern. Ein Abgrund, und eine Hängebrücke in Form eines Menschen. Wenn du ans andere Ufer willst, wirf dich selbst hinüber. Das Glück hat immer eine Vergangenheit, sagt meine Mutter gern, und jeder Kummer hat eine Zukunft.

Wie ein schiffbrüchiger Seefahrer beschließe ich, die unbekannte Insel, auf der ich gestrandet bin, zu erkunden. Minsk. Warum bin ich überhaupt hierhergezogen? In ein Bruderland zwar, aber doch ist alles fremd. Die Rote Kirche und der breite Boulevard, das Denkmal für einen kahlen Dichter und dieser Sarkophag, der Palast der Republik. Lauter Gebäude und keine einzige Erinnerung. Fremde Fenster, unbekannte Gesichter. Was ist das überhaupt für ein Land? Was weiß ich über die Stadt? Nichts. Meine Mutter hat hier nochmals geheiratet.

 

Vor dem Hauseingang liegt ein schlampiger Stapel aussortierter Bücher. Ich sehe mir eines an. Jakub Kolas. Neues Land.

Wieder im dritten Stock angelangt, bemerke ich an meiner Wohnungstür ein rotes Kreuz. Nicht groß, aber knallrot. Wahrscheinlich ein Scherz der Maklerin, denke ich. Ich lasse meine Einkaufstaschen beim Lift stehen und beginne, das Kreuz abzurubbeln, da sagt hinter mir eine Stimme:

»Was machen Sie da?«

»Ich mache die Tür sauber«, sage ich, ohne mich umzudrehen.

»Warum?«

»Irgendein Vollidiot hat hier ein Kreuz aufgemalt.«

»Schön, Sie kennenzulernen! Der Vollidiot bin ich. Bei mir ist kürzlich Alzheimer diagnostiziert worden. Bisher leidet nur mein Kurz