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Brüder

Jackie Thomae

E-Book (EPUB)
2019 Hanser Berlin
432 Seiten
ISBN: 978-3-446-26509-7

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€ 11,99

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Kurztext / Annotation
Zwei Männer. Zwei Möglichkeiten. Zwei Leben. Jackie Thomae stellt die Frage, wie wir zu den Menschen werden, die wir sind.
Mick, ein charmanter Hasardeur, lebt ein Leben auf dem Beifahrersitz, frei von Verbindlichkeiten. Und er hat Glück - bis ihn die Frau verlässt, die er jahrelang betrogen hat. Gabriel, der seine Eltern nie gekannt hat, ist frei, aus sich zu machen, was er will: einen erfolgreichen Architekten, einen eingefleischten Londoner, einen Familienvater. Doch dann verliert er in einer banalen Situation die Nerven und steht plötzlich als Aggressor da - ein prominenter Mann, der tief fällt. Brüder erzählt von zwei deutschen Männern, geboren im gleichen Jahr, Kinder desselben Vaters, der ihnen nur seine dunkle Haut hinterlassen hat. Die Fragen, die sich ihnen stellen, sind dieselben. Ihre Leben könnten nicht unterschiedlicher sein.

Jackie Thomae, geboren 1972 in Halle, aufgewachsen in Leipzig und Berlin, arbeitet als Journalistin und Fernsehautorin. 2015 erschien ihr Debütroman Momente der Klarheit. Mit ihrem zweiten Roman, Brüder, stand sie auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2019 und wurde mit dem Düsseldorfer Literaturpreis 2020 ausgezeichnet. Sie lebt in Berlin.

Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

Die Berliner Innenstadt

wird von einem Bahnring umschlossen, dem Verkehrspolitiker aufgrund seiner prägnanten Form den Namen Hundekopf gegeben haben. Als Micks Mutter verkündete: Wolfgang und ich, wir heiraten, bedeutete das, dass sie vom Treptower Park, am unteren Hinterkopf, nach Halensee an die Spitze der Hundeschnauze ziehen würden. Fünfundzwanzig Minuten würde die S-Bahn brauchen, wenn sie die Unterkieferlinie des Hunds entlangfuhr, doch die Bahn umrundete die Stadt nicht mehr, denn die Stadt war geteilt. Anderthalb Jahre lagen zwischen Antrag und Ausreise. Micks Mutter verlor ihre Arbeitsstelle in einem Wissenschaftsverlag und arbeitete in einem evangelischen Kindergarten. Ein Akt der Barmherzigkeit, für den Monika dankbar sein musste, auch weil offensichtlich war, dass sie an diesem Ort weniger verloren hatte als in einem Wanderzirkus. Unterdessen lebte Mick sein Teenie-Leben, das nach außen hin fast so aussah wie immer. Doch während er zum Rudertraining ging oder sich mit seiner Clique im Plänterwald herumtrieb, verabschiedete er sich innerlich von seinem Revier und seinen Freunden. Sein Trost bestand in den unendlichen materiellen Möglichkeiten, die ihn auf der anderen Seite der Mauer erwarteten, und der Zuversicht, dass es dort schließlich auch Leute gab.

Als sie dann umzogen oder rübermachten, wie man im Osten sagte, hatte er seinen Abschiedsschmerz fast hinter sich. Vorfreude überlagerte das Gefühl, verschleppt zu werden. Er zog nur ein paar Kilometer weiter, er blieb in seiner Stadt. Alles in allem bescheinigte er sich die absolute Kontrolle über die Situation.

Ein Irrtum. Die ersten drei Jahre im Westen verbrachte Mick mit seiner ersten ernsthaften Sucht und deren Bekämpfung. Eine Sucht, von der er noch nie gehört hatte. Nicht einmal in den Aufzählungen der unzähligen Übel des Kapitalismus seitens der Ostpropaganda war sie vorgekommen, und so brauchte er eine Weile, um zu begreifen, was da mit ihm passiert war und was es ausgelöst hatte.

Was jedem klar war: Im Osten gab es weniger Autos, weniger Reklame und Kommerz, keine Penner, keine Junkies und keine Hinweise auf Sex im Stadtbild. Im Osten gab es keine nennenswerte Einwanderercommunity, die sich niederließ und Geschäfte und Restaurants eröffnete, im Osten gab es nur ausländische Vertragsarbeiter und Studenten, die kamen und wieder verschwanden, wie Micks Vater. Im Westen fuhren keine Straßenbahnen, dafür Doppeldeckerbusse, und es gab ein U-Bahn-Netz statt nur zwei mickriger Linien. Um gegen Ostberlin anzuglitzern, brauchte es keine Glitzermetropole. Es brauchte einfach ein bisschen mehr von allem, und das gab es in West-Berlin. Nichts davon traf Mick unerwartet. Bis auf dieses Zeug. Er war fünfzehn, es war die Zeit des großen, wachstumsbedingten Hungers, und weil er den Zusammenhang zwischen Zufuhr und Verbrennung noch nicht begriff, pflegte er die Essgewohnheiten des Leistungssportlers, der er als Kind gewesen war, obwohl er seine Nachmittage nun vor dem Fernseher verbrachte. Alles musste probiert werden, die intensiven Geschmäcker konnten gar nicht artifiziell genug sein. Illusionen von Barbecue, frischem Gebäck oder irgendwelchen Früchten, die die Natur so nicht zustande brachte. Fantasien aus Fett, Zucker und Chemielabor. Er fraß sich durch die Stadt. In jedem U-Bahnhof zog es ihn an den Kiosk, und am Bahnhof Zoo trieb es ihn nicht auf die verruchte Rückseite, sondern auf den Vorplatz, wo das goldene M verheißungsvoll leuchtete. Im Osten hatte alles nach viel weniger geschmeckt, die alchemistischen Suchtformeln fehlten, mit denen man Lebensmittel in Designerdrogen verwandeln konnte. Man verzichtete zwangsläufig auf Raffinesse und war damit unbeabsichtigt der Zeit voraus: Alles schmeckte wie 1946 beziehungsweise wie aus dem Naturkostladen. Ob das besser, schlechter oder gesünder war, interessierte Mick nicht. Ihn interessierte, wie er nach kurzer Zeit aussah: Würde er sich in eine Mannscha