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Muttertag

André Mumot

E-Book (EPUB)
2016 Eichborn Ag
Auflage: 1. Auflage
493 Seiten; ab 16 Jahre
ISBN: 978-3-7325-2978-0

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Kurztext / Annotation

Eine verfallene Villa, ein traumatisiertes Dorf und vertuschte Experimente. Menschen, die sich vor dem Tag verstecken, und eine einsame Kapelle, in der Gläubige ein Mädchen ohne Gedächtnis anbeten. Lange hat sie sich verborgen, doch nun kehrt eine skrupellose Sekte zurück, um ihre blutigen Pläne in die Tat umzusetzen. Ausgerechnet der vermeintlich harmlose Pensionär Richard Korff gerät dabei ins Fadenkreuz, und bald verfängt sich auch der Rest seiner Familie im tödlichen Spiel einer Mutter, die keine Gnade kennt.

André Mumots raffiniertes Romandebüt über Abgründe in der deutschen Provinz. Ein so unerschrockenes wie elegantes Spiel mit den Genres.



André Mumot, geboren 1979, hat nach seiner Promotion in Kulturwissenschaften und Ästhetischer Praxis in Hildesheim für verschiedene Medien, Tageszeitungen und Magazine geschrieben und 2008 das Buch Irrwege zum Ich. Eine kleine Literaturgeschichte des Gehens veröffentlicht. Er ist Theaterkritiker und moderiert "Rang 1", das Theatermagazin im Deutschlandradio Kultur. Zum von Publikum und Kritik gefeierten Bestseller wurde seine Übersetzung des Romans Wunder von Raquel Palacio.

Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

Und wenn sie sich wehrt? Sie bleiben stehen, werfen einander unschlüssige Blicke zu, flüstern kurz miteinander. Sie schauen sich um im Raum und dann zögerlich zu ihr hinüber. Wird sie diesmal tun, was man ihr sagt? Sie muss. Einer stellt sicher, dass die Tür verschlossen ist, nickt einem anderen zu, der das Futteral öffnet und die Schärfe einer Klinge prüft. Dann geht er auf sie zu. Erst mal rauf mit ihr. Die Treppe hoch, auf die leere, dunkle Bühne. Notfalls werden sie sie zerren, notfalls wird sie eben geschleift. An den Haaren gezogen, wenn es nicht anders geht. Aber, nein, das Mädchen wehrt sich nicht - diesmal nicht. Fast könnte man meinen, es hätte sich schon an all das gewöhnt. Noch ist es stumm, noch sagt es kein Wort. Es krümmt sich kurz, es schaut mit großen starren Augen zur Decke hinauf. Es konzentriert sich, lauscht, nickt.

* * *

Wenn ich es einmal gekonnt habe, denkt das Mädchen, kann ich es wieder tun. Schneiden und trinken. »Da.« Jetzt hält er mir einen dieser Gegenstände vors Gesicht. Noch einmal sagt er: »Da!« Ich nicke. »Du musst das Messer nehmen.« Es ist kalt. Ich schließe die Augen und spüre, dass mein Herz schneller und schneller schlägt. Aber das heißt doch, dass ich am Leben bin, oder nicht? Dass ich immer noch am Leben bin. Ich versuche, mich auf die Stimme zu konzentrieren, aber es gelingt mir einfach nicht. Zu viel Bewegung. Etwas flattert dicht an mir vorbei, und ich zucke zusammen, schreie auf. Es ist ein Vogel, einer von diesen Vögeln, die nicht wissen, wohin, die mit den Flügeln schlagen und zur Decke aufsteigen. Weil dort Rettung sein müsste. Eine Hand umfasst meine Schulter. »Hör zu«, sagt er leise, und ich spüre kalt die Klinge. Ich weiß nicht, ob ich es richtig mache, aber jetzt tue ich, was sie wollen. Jetzt spreche ich. Mein Herz klopft, und kurz öffne ich die Augen. Stewart sitzt in einer Ecke. Ich kann ihn kaum erkennen, aber er hat beide Hände vor dem Mund gefaltet und die Ellenbogen auf die Knie gestützt. Ich kann seine Spannung spüren, weiß, dass er jetzt sehr viel von mir erwartet. Es ist kalt, seit sie das Feuer gelöscht haben. Die abgezogene Haut ist verbrannt, nur noch bittere, stinkende Asche. Aber ich bin am Leben, vielleicht bin ich immer noch ich, und als der Schrei ertönt, schreie ich mit, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. Der Raum ist hoch, das Echo fällt auf uns herab. Das Blut ist so dünn. Dünn ist es, und es sieht nicht rot aus, nicht so rot, wie ich es mir vorgestellt habe. »Es genügt noch nicht«, sagt er. Stewart nickt in seiner Ecke. Also weiter.

* * *

Jetzt wartet er schon eine ganze Weile. Noch immer keine Bewegung auf der Straße. Ein bisschen Regen, Tropfen wie hauchfeiner Staub im Laternenlicht. Schon wieder schaut er auf die Uhr. Pünktlich sind sie nicht.

Der unordentliche Haufen auf dem Beifahrersitz zieht seinen Blick immer wieder an - die Notizblöcke, die Karten, die Kopie eines medizinischen Gutachtens, die Kamera. Bilder von Luisenburg: das Gelände, aufsteigende Rasenflächen, Bänke, die Umgebung. Die Zufahrtsstraßen. Das frisch eingesetzte Fenster.

Jetzt steigt er aus, hält sich an der Fahrertür fest. In so einem Moment, denkt er, würde es sich lohnen, Raucher zu sein. 23 Uhr 19. Es ist kalt, niemand hier. Die fensterlosen Gebäuderückseiten der leerstehenden Farbenfabrik versperren ihm die Sicht auf die Straße. Aber sie ist da, schlängelt sich durch das vereinsamte Gewerbegebiet mit den weit auseinanderstehenden, kalten Lichtquellen und den ausgeschalteten Ampeln. Ein viel zu breiter Fluss aus aufgesprungenem Asphalt, der sie zu ihm bringen wird. Er dreht sich um. Irgendwo dort ist die Raststätte, dahinter die Autobahnauffahrt, dahinter mitteldeutscher Wald.

Die Müdigkeit macht ihm zu schaffen. Gewiss wird er angespannt und überfordert wirken, wenn sie hier eintreffen. Dabei kann er so jung, so frisch, so hoffnungsvoll aussehen. Auf s