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Alles außer gewöhnlich

Aufwachsen im Chelsea Hotel | Nicolaia Rips

E-Book (EPUB)
2017 Nagel & Kimche Im Carl Hanser Verlag
Auflage: 1. Auflage
224 Seiten
ISBN: 978-3-312-01032-5

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Kurztext / Annotation
Weil ihre weltfremden Künstler-Eltern 2005 ins legendäre Chelsea Hotel in New York ziehen, wächst Nicolaia Rips auf inmitten von Bohemiens, Callgirls und Spinnern. Ständig werden auf den Zimmern Partys gefeiert, krumme Dinger gedreht, phantastische Geschichten als lautere Wahrheit verkauft. Mittendrin die kleine Nicolaia, die als Maskottchen gehütet wird. Das ist interessant - aber auch eine Herausforderung. Mit wundervoller Komik und viel Humor erzählt Rips in ihrem Erlebnisbericht, wie sie die Normalität zu meistern lernte und sich ihren Platz im fast normalen Anderssein erkämpfte. Es ist ein Abgesang auf die Demimonde des Chelsea - und die mitreißende Geschichte einer außergewöhnlichen Kindheit.

Nicolaia Rips studiert an der Brown University (Rhode Island), davor besuchte sie die LaGuardia Highschool für darstellende Künste in New York City, wo sie auch stellvertretende Chefredakteurin der LaGuardia Literaturzeitschrift war. Ihr bisheriges Leben hat sie im Chelsea Hotel verbracht. In ihrer Freizeit nimmt sie Gesangsunterricht, macht Teamsport, liest begierig und erträgt ihre Eltern. Alles außer gewöhnlich ist ihr Debüt.

Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

Vorschule

IN MEINEN FRÜHESTEN ERINNERUNGEN an meinen Vater sitzt er in einem Armsessel, mich auf dem Schoß, und liest mir aus unterschiedlichen Büchern vor. Anstelle der Geschichten, die uns allen so lieb und vertraut sind (Wilbur und Charlotte, Der kleine Prinz) nahm er, was immer er selbst gerade las, und wandelte es in eine Kindergeschichte um.

Ich vermute, er tat das nicht deshalb, weil er faul war, was er zweifelsohne war, sondern weil ihm die Herausforderung gefiel, Der Idiot oder irgendetwas von Thomas Carlyle, seinem Lieblingsautor, in eine Geschichte für Unterfünfjährige zu verwandeln.

Das wäre an sich nicht weiter problematisch gewesen, hätte er nicht geglaubt, dass das Vorlesen von Erwachsenenbüchern - gefolgt von einer Diskussion - eine effektivere Methode war, die geistigen Fähigkeiten seiner Tochter zu fördern, als die üblichen Verfahren.

Das zog zweierlei nach sich (wie außer meinem Vater alle erkannten): Zum einen ging das Vorlesen und Plaudern auch in einem Alter noch weiter, in dem andere Eltern anfangen, ihren Kindern das Lesen beizubringen, zum anderen begann die Sprache Carlyles in das weiche Gehirn seines Kindes (also meines) einzusickern.

Wenn er mir ein paar Stunden lang vorgelesen hatte, mummelte mein Vater mich ein und ging mit mir in sein Lieblingscafé in der Eighth Avenue. Das Big Cup war in leuchtenden Farben gestrichen und stand voller kaputter Stühle und Sofas, und an die Klotüren waren zu meiner Freude Barbiepuppen genagelt. Die Puppen, hauptsächlich Kens, waren nackt.

Das Café war beliebt bei jungen Männern, die aussahen wie Ken, und bei älteren Männern, die jüngere Männer, die aussahen wie Ken, kennenlernen wollten. Ich war das einzige Kind dort, und als einer der ersten Stammgäste wurde ich zu einer Art Maskottchen.

Als ich vier geworden war und meinen Eltern der Gedanke kam, dass ich eine Vorschule besuchten sollte, waren die Schulen in der Nähe des Chelsea Hotels alle voll. Also ließen meine Eltern meinen Namen auf diverse Wartelisten setzen, wobei mein Vater diejenigen Schulen, die in der Nähe seiner bevorzugten Cafés lagen, mit einem Sternchen kennzeichnete, aber die Chancen standen schlecht. Unterdessen verbrachte ich meine Tage im Foyer des Hotels und im Big Cup und unterhielt mich mit den Bewohnern beziehungsweise Stammgästen.

Eines Tages erhielten meine Eltern einen Anruf von einer Schule in der Nachbarschaft. Ein Platz war frei geworden, aber da noch mehr Kinder auf der Warteliste standen, wollte die Schulleiterin mit uns allen sprechen, bevor sie entschied, wen sie aufnehmen würde.

Mir war das alles damals natürlich fremd, aber die Eltern in Manhattan haben ein wahnhaftes Verhältnis zum Schulsystem, sie glauben, dass die richtige Vorschule maßgeblich dafür ist, dass ihr Kind auf die richtige Grundschule, Mittelschule und Highschool gelangt, aufs richtige College und so weiter. Die Konkurrenz ist so groß, dass manche Eltern Leute dafür bezahlen, dass sie die ganze Familie auf das Vorstellungsgespräch vorbereiten. Das geht so weit, dass diese Berater sogar die Kleider auswählen, die beim Vorstellungsgespräch getragen werden sollen.

Die Schule, von der meine Eltern angerufen wurden, lag in der West Fourteenth Street im sogenannten Meatpacking-District. Früher wurde in diesem Viertel im großen Stil Fleisch verarbeitet, jetzt reiht sich dort ein schicker Laden an den anderen. Da die Schule als kreativitätsfördernd und sicher galt, wurde sie von den Kindern berühmter Schauspieler und Schauspielerinnen besucht, die in der Nähe wohnten. Die Schule hatte einen so guten Ruf, dass die Schulleiterin eine lokale Berühmtheit war, die von hinterhältigen Eltern umschwänzelt wurde.

Wir betraten die Schule und wurden sogleich zu einem Wartezimmer geführt. Die Schulleiterin, sagte man uns, werde in wenigen Minuten bei uns sein.

In dem Zimmer warteten schon eine



Kathrin Razum übersetzte u. a. T. C. Boyle, John le Carré, Agatha Christie, Vikram Chandra, V. S. Naipaul, Edna O'Brien und Susan Sontag. Sie lebt in Heidelberg.