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Gringo

eine globale Geschichte | Franz Josef Brüseke

E-Book (EPUB)
2023 Books On Demand
Auflage: 1. Auflage
386 Seiten
ISBN: 978-3-7578-6427-9

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Kurztext / Annotation
Georg will wissen, wer er ist. Er will wissen, wer sein Vater ist. Helfen soll ihm dabei sein Therapeut Dr. Berg. Gemeinsam entdecken Arzt und Patient, dass es Georgs Vater nach einer abenteuerlichen Flucht aus der Sowjetarmee nach Brasilien verschlagen hat, wo er Georg, den "Gringo", zeugt. Sich nirgendwo heimisch fühlend, wird das Leben Georgs recht bald zu einer Odyssee zwischen Brasilien und Europa. Ob als Drogenschmuggler in der Karibik, Barbesitzer in Hamburg oder Philosophiestudent in Münster: der Gringo schlägt nirgendwo Wurzeln. Alt geworden und ohne jede Hoffnung in seiner maroden Jacht wohnend, sinniert "Gringo" über sein Leben. In dieser Lage begegnet ihm die Filmstudentin Simone.

F.J. Brüseke, geb 1954 in Hamm/Westfalen, war seit 1987 Professor für Soziologie an verschiedenen Universitäten Brasiliens. Er lebt heute mit seiner deutsch-brasilianischen Familie in Florianópolis. Autor mehrerer Romane, darunter "Zeus und Goldenberg" (Dittrich Verlag, 2021) und verschiedener Sachbücher über Entwicklungsfragen und Techniksoziologie.

Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

Neunte Sitzung

Wie kann man überhaupt sagen, dass alles fließt, wenn es nichts Festes gibt? Das Flüssige fließt nur, wenn das Feste fest ist. Die uns sagen, es gäbe kein Fundament, wo stehen sie? Sie fliegen, fließen, sind schon verdampft? Bewegung kannst du nur sehen, wenn du stillstehst. Wenn du neben dem Zug herläufst, bewegt er sich nicht. Auch drinnen sitzend steht der Zug still und du auch. Was fliegt, ist die Welt, am Fenster vorbei. Die Bäume in der Nähe sausen schnell, weit weg der Wald beharrt, doch dann ist auch er weg. Du und der Zug, ihr steht still, während alles saust.

So ist es auch mit den Werten, sie sind nur etwas wert, wenn sie bleiben. Werte sind still, wenn sie stehen, fast hörst du sie nicht. Was sich schnell verändert, ist nichts wert oder wenig. Aber nicht immer ist das, was bleibt, wertvoll. Schlechtes kann dauern und der Wert nur kurz, wie ein Blinken, wie ein Stern. Es gibt sausende Werte, die beleuchten das Herz, wie ein Blitz, und helfen dir, einen Augenblick zu sehen, wo du bist. Dann gehst du im Dunkeln weiter, doch du weißt die Richtung, für einige Zeit.

Wohin gehen, wenn es kein Licht gibt, keinen Blitz? Wenn du nichts siehst, musst du hören, nicht auf den Lärm im Dunkeln, auf die Stimme im Innern. Daher kommt der Rat, von denen, die schon gewandert sind vor Dir, aber in eine andere Richtung. Und wenn du nichts hörst außer Lärm und Gerede, nichts siehst und nichts hörst? Dann versuch dich zu erinnern an das, was du nicht mehr weißt, was du verloren hast vor Zeiten, manchmal schon, bevor du geboren bist. Das ist der Rat, den du brauchst, er ist immer hinten, immer unten, im Fundament, da wo du stehst.

*

Seine Rolle als Therapeut hatte er eh verlassen und so kramte er denn mit seinem Patienten in den Dokumenten herum, die dieser mitgebracht hatte, Dokumente, die Berg selbst sich schon einige Male angesehen hatte, in der Absicht, die Anamnese Georgs zu vervollständigen. Niemals hätte er solch eine Haltung vor dieser jetzt aus dem gewohnten Rahmen fallenden Therapie zugelassen. Aber was hatte er noch, außer drei Patienten zu behandeln, von denen einer Georg war? Dann galt es das Reiseprogramm in Angriff zu nehmen, das seine Frau angesichts der sich unaufhaltsam nahenden Pensionierung schon bis ins Detail ausgearbeitet hatte. Ihm graute davor.

In einigen Wochen waren auch die anderen beiden Therapien abgeschlossen, denn es galt nur noch ihren Erfolg zu konsolidieren. Der eine Patient hatte eine akute Angststörung überwunden, wegen der er ihn aufgesucht hatte, und der andere, in Wahrheit eine Frau, laborierte an einer in den letzten drei Jahren regelmäßig wiederkehrenden depressiven Verstimmung herum, die wohl dem sich nahenden Klimakterium geschuldet war und sich somit gesprächstherapeutisch als nur begrenzt zugänglich erwies.

"Warum auch nicht einmal einen etwas unkonventionellen Stil versuchen?" so sagte Berg sich und bat Georg, ihm doch bitte einige Zusammenhänge zwischen den Dokumenten, Briefen und Fotos zu erläutern, die ihm unklar geblieben waren. Der eben noch schweigsame und wie gelähmt erscheinende Mann wurde lebendig und setzte sich ihm gegenüber an den Schreibtisch. Sich in dieser Position sichtlich wohler fühlend als im gerade verlassenen Patientensessel blickte er Berg an. "Was wollen Sie wissen?"

*

Der 28.08.1941, der Tag, an dem Stalins Erlass über die Umsiedlung der Wolgadeutschen unterzeichnet wurde, war ein Tag wie jeder andere in Engels, wo die Steins wohnten. Erst zwei Tage später erschien besagter Erlass in der Zeitung "Nachrichten" in ganzer Länge und es dauerte weniger als vierundzwanzig Stunden, bis die ersten Waggons mit den entgeisterten Familien Richtung Sibirien, Kasachstan und andere weit abgelegene Bestimmungsorte rollten. Wie später die Juden leisteten sie keinen Widerstand, als sie von den Kommissaren aus den Häusern getrie