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Im Menschen muss alles herrlich seinOverlay E-Book Reader

Im Menschen muss alles herrlich sein

Roman | Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2021 und ausgezeichnet mit dem Preis der Literaturhäuser 2022 | Sasha Marianna Salzmann

E-Book (EPUB)
2021 Suhrkamp
Auflage: 1. Auflage
384 Seiten
ISBN: 978-3-518-76956-0

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Kurztext / Annotation

In ihrem gefeierten Roman erzählt Sasha Marianna Salzmann von Umbruchzeiten, von der »Fleischwolf-Zeit« der Perestroika bis ins Deutschland der Gegenwart. Sie erzählt, wie Systeme zerfallen und Menschen vom Sog der Ereignisse mitgerissen werden. Bildstark, voller Empathie und mit großer Intensität.

»Was sehen sie, wenn sie mit ihren Sowjetaugen durch die Gardinen in den Hof einer ostdeutschen Stadt schauen?«, fragt sich Nina, wenn sie an ihre Mutter Tatjana und deren Freundin Lena denkt, die Mitte der neunziger Jahre die Ukraine verließen, in Jena strandeten und dort noch einmal von vorne begannen. Lenas Tochter Edi hat längst aufgehört zu fragen, sie will mit ihrer Herkunft nichts zu tun haben. Bis Lenas fünfzigster Geburtstag die vier Frauen wieder zusammenbringt und sie erkennen müssen, dass sie alle eine Geschichte teilen.



Sasha Marianna Salzmann ist Theaterautor:in, Essayist:in und Dramaturg:in. Für ihre Theaterstücke, die international aufgeführt werden, hat sie verschiedene Preise erhalten, zuletzt den Kunstpreis Berlin 2020. Ihr Debütroman Außer sich wurde 2017 mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung und dem Mara-Cassens-Preis ausgezeichnet und stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Er ist in sechzehn Sprachen übersetzt. Für ihren zweiten Roman, Im Menschen muss alles herrlich sein (2021), ebenfalls für den Deutschen Buchpreis nominiert, erhielt sie den Preis der Literaturhäuser 2022 und den Hermann-Hesse-Preis 2022.

Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

Steinehüpfen

Natürlich wollte ich wissen, was passiert ist. Was überhaupt passiert ist, bevor Edi im Hof zusammengeschlagen wurde. Sie lag auf der Wiese, ihre Haare ganz bleich und schmutzig. Meine Mutter kniete neben ihr, Tante Lena brüllte die beiden zusammen. Alle drei gestikulierten, als vertrieben sie Geister. Als sie mich sahen, fingen sie an zu weinen, eine nach der anderen, wie eine Matroschka: aus den Tränen der einen wurden die Tränen der Nächsten und so weiter. Zuerst legte meine Mutter los, dann stimmten die anderen mit ein, ein Kanon an Jammerlauten, ich konnte das, was sie von sich gaben, überhaupt nicht auseinanderhalten.

Gut, warum meine Mutter nach der langen Funkstille feuchte Augen bekam, als sie mich da stehen sah, ist mir klar, aber die beiden anderen hatten wohl was miteinander auszufechten. Mutter und Tochter, die eine lag auf dem Boden, als wäre sie ein Schatten, den die andere warf. Und andersrum schien die eine aus den Füßen der anderen hochzuwachsen wie ein Strauch mit gebrochenen Zweigen. Tante Lena hatte einen grünen Hosenanzug an, der um ihren Körper schlackerte, ich hätte sie fast nicht erkannt. Ich habe die Strampler ihrer Tochter getragen, ich habe an ihrem Küchentisch für Klassenarbeiten und Prüfungen gepaukt, ich habe mitten in der Nacht an ihrer Tür geklingelt, wenn ich es zu Hause nicht mehr ausgehalten habe, aber das ist lange her, und einen Moment lang war ich mir nicht sicher, ob es tatsächlich Lena war, die ihr auf dem Boden zusammengekrümmtes Kind anblaffte: »Warum treibst du dich hier draußen herum, was machst du nur?«

Edi sah ramponiert, aber nicht betrunken aus, sie behauptete allerdings im vollen Ernst, im Hof zwischen den Plattenbauten eine Giraffe gesehen zu haben. Die soll hier herumspaziert sein, mit der Schnauze ins Gras gepickt und in die Fenster der anliegenden Häuser gelinst haben. Das ist vielleicht der Osten hier, aber Giraffen haben wir, soweit ich weiß, keine, so ein Vieh gibt es hier nicht.

Edi war lange nicht hier gewesen, das merkte man an ihren Haaren, und an den Klamotten, an denen vor allem. Ich hatte mit ihr ohnehin wenig zu tun gehabt, auch als sie noch bei ihren Eltern wohnte, obwohl ich an deren Küchentisch Hausaufgaben machte. Ich war zu jung für sie, außerdem kam sie nie herein, um sich ein Brot zu machen oder einen Tee, wenn ich da war. Die Tür zu ihrem Zimmer hatte einen milchigen Glaseinsatz, durch den ich sehen konnte, wie sie das Licht an- und ausknipste, grundlos, am Tag oder am Abend, an und aus, an und aus. Irgendwann war das Glas zerbrochen, da ragten nur noch ein paar Zacken aus dem Rahmen, niemand sagte etwas dazu, ich fragte nicht nach, und bald gab es ein Ersatzglas, als sei nie etwas vorgefallen. Edi war damals ziemlich unauffällig, schwarze Haare, schwarze Jeans, schwarzes Shirt. Würde ich sie heute auf der Straße treffen, würde ich an ihr vorbeilaufen, so bunt gekleidet ist sie mittlerweile. Ich erkannte sie nur, weil ihre Mutter neben ihr stand und sie anbrüllte. Und weil es meine Mutter war, die versuchte, den Streit zu schlichten. Wieder und wieder ging ein Reigen an Beschuldigungen los, Tante Lena fauchte meine Mutter an: »Warum verheimlichst du mir - weißt du nicht -?«, und meine Mutter zurück: »Es geht niemanden etwas an, wenn ich sterbe.«

Blöder Zeitpunkt für mich, in das Gespräch einzusteigen, sie war noch mitten im Satz, als ihre Augen an mir hängenblieben, und dann wurde sie plötzlich ganz steif, als habe die Zeit einen Sprung gekriegt. Zack. Sie sieht mich an, ich sehe sie an.

Sie hat graue Haare bekommen, irgendetwas wirkte ganz gequetscht in ihr, auch wenn sie versuchte, schick auszusehen. Sie färbt sich die Haare, seit einer Weile schon, die waren am Anfang des Abends bestimmt noch ordentlich frisiert gewesen, aber jetzt waren die Strähnen zerzaust, und man sah den silbernen Ansatz. Ihre Tränensäcke wölbten sich vor, aber d