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Heidis Lehr- und WanderjahreOverlay E-Book Reader

Heidis Lehr- und Wanderjahre

Johanna Spyri

E-Book (EPUB)
2021 Books On Demand
Auflage: 1. Auflage
210 Seiten
ISBN: 978-2-322-18082-0

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€ 2,49

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Kurztext / Annotation
dunkelbraunen Almhütte zuging, die einige Schritte seitwärts vom Pfad in einer Mulde stand, wo sie vor dem Bergwind ziemlich geschützt war. Die Hütte stand auf der halben Höhe der Alm, vom Dörfli aus gerechnet, und dass sie in einer kleinen Vertiefung des Berges stand, war gut, denn sie sah so baufällig und verfallen aus, dass es auch so noch ein gefährliches Darinwohnen sein musste, wenn der Föhnwind so mächtig über die Berge strich, dass alles an der Hütte klapperte, Türen und Fenster, und alle die morschen Balken zitterten und krachten. Hätte die Hütte an solchen Tagen oben auf der Alm gestanden, sie wäre unverzüglich ins Tal hinabgeweht worden. Hier wohnte der Geißenpeter, der elfjährige Bube, der jeden Morgen unten im Dörfli die Geißen holte, um sie hoch auf die Alm hinaufzutreiben, um sie da die kurzen kräftigen Kräuter fressen zu lassen bis zum Abend; dann sprang der Peter mit d

Johanna Spyri war das vierte von sechs Kindern des Arztes Johann Jakob Heusser und der Dichterin Meta Heusser-Schweizer. Ihr älterer Bruder Jakob Christian Heusser war Geologe und Mineraloge, ihre Nichte Emilie Kempin-Spyri die erste promovierte Juristin. Sie wuchs in Hirzel auf, einem Dorf im Kanton Zürich am Zimmerberg über dem Zürichsee. Im Alter von fünfzehn Jahren zog sie zu ihrer Tante nach Zürich, wo sie die Schule besuchte. Im Sommer 1844 ging sie für zwei Jahre in ein Pensionat in Yverdon, um Französisch zu lernen. Ein Jahr später kam sie zurück und wohnte bis zu ihrem 25. Lebensjahr in Hirzel. Sie unterrichtete ihre jüngeren Geschwister und half der Mutter im Haushalt. 1851 verlobte sie sich mit dem Zürcher Juristen und Redakteur Bernhard Spyri (1821-1884), der zum engsten Freundeskreis von Richard Wagner in Zürich gehörte. Die Hochzeit fand am 9. September 1852 in der Kirche Wollishofen statt. Die erste Wohnung des Paares lag an der Stadelhoferstrasse 22 im Kleinen Baumwollenhof.

Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

Zum Alm-Öhi hinauf

Vom freundlichen Dorfe Maienfeld führt ein Fußweg durch grüne, baumreiche Fluren bis zum Fuße der Höhen, die von dieser Seite groß und ernst auf das Tal herniederschauen. Wo der Fußweg anfängt, beginnt bald Heideland mit dem kurzen Gras und den kräftigen Bergkräutern dem Kommenden entgegenzuduften, denn der Fußweg geht steil und direkt zu den Alpen hinauf.

Auf diesem schmalen Bergpfade stieg am hellen, sonnigen Junimorgen ein großes, kräftig aussehendes Mädchen dieses Berglandes hinan, ein Kind an der Hand führend, dessen Wangen so glühend waren, dass sie selbst die sonnverbrannte, völlig braune Haut des Kindes flammend rot durchleuchteten. Es war auch kein Wunder: Das Kind war trotz der heißen Junisonne so verpackt, als hätte es sich eines bitteren Frostes zu erwehren. Das kleine Mädchen mochte kaum fünf Jahre zählen; was aber seine natürliche Gestalt war, konnte man nicht ersehen, denn es hatte sichtlich zwei, wenn nicht drei Kleider übereinander angezogen und drüberhin ein großes, rotes Baumwolltuch um und um gebunden, so dass die kleine Person eine völlig formlose Figur darstellte, die, in zwei schwere, mit Nägeln beschlagene Bergschuhe gesteckt, sich heiß und mühsam den Berg hinaufarbeitete. Eine Stunde vom Tal aufwärts mochten die beiden gestiegen sein, als sie zu dem Weiler kamen, der auf halber Höhe der Alm liegt und >im Dörfli< heißt. Hier wurden die Wandernden fast von jedem Hause aus angerufen, einmal vom Fenster, einmal von einer Haustür und einmal vom Wege her, denn das Mädchen war in seinem Heimatort angelangt. Es machte aber nirgends Halt, sondern erwiderte alle zugerufenen Grüße und Fragen im Vorbeigehen, ohne still zu stehen, bis es am Ende des Weilers bei dem letzten der zerstreuten Häuschen angelangt war. Hier rief es aus einer Tür: »Wart einen Augenblick, Dete, ich komme mit, wenn du weiter hinaufgehst.«

Die Angeredete stand still; sofort machte sich das Kind von ihrer Hand los und setzte sich auf den Boden.

»Bist du müde, Heidi?«, fragte die Begleiterin.

»Nein, es ist mir heiß«, entgegnete das Kind.

»Wir sind jetzt gleich oben, du musst dich nur noch ein wenig anstrengen und große Schritte nehmen, dann sind wir in einer Stunde oben«, ermunterte die Gefährtin.

Jetzt trat eine breite gutmütig aussehende Frau aus der Tür und gesellte sich zu den beiden. Das Kind war aufgestanden und wanderte nun hinter den zwei alten Bekannten her, die sofort in ein lebhaftes Gespräch gerieten über allerlei Bewohner des >Dörfli< und vieler umherliegender Behausungen.

»Aber wohin willst du eigentlich mit dem Kinde, Dete?«, fragte jetzt die neu Hinzugekommene. »Es wird wohl deiner Schwester Kind sein, das hinterlassene.«

»Das ist es«, erwiderte Dete, »ich will mit ihm hinauf zum Öhi, es muss dort bleiben.«

»Was, beim Alm-Öhi soll das Kind bleiben? Du bist, denk ich, nicht recht bei Verstand, Dete! Wie kannst du so etwas tun! Der Alte wird dich aber schon heimschicken mit deinem Vorhaben!«

»Das kann er nicht, er ist der Großvater, er muss etwas tun, ich habe das Kind bis jetzt gehabt, und das kann ich dir schon sagen, Barbel, dass ich einen Platz, wie ich ihn jetzt haben kann, nicht dahinten lasse um des Kindes willen; jetzt soll der Großvater das Seinige tun.«

»Ja, wenn der wäre wie andere Leute, dann schon«, bestätigte die kleine Barbel eifrig; »aber du kennst ja den. Was wird der mit einem Kinde anfangen und dann noch einem so kleinen! Das hält's nicht aus bei ihm! Aber wo willst du denn hin?«

»Nach Frankfurt«, erklärte Dete, »da bekomm ich einen extraguten Dienst. Die Herrschaft war schon im vorigen Sommer unten im Bad, ich habe ihre Zimmer auf meinem Gang gehabt und sie besorgt, und schon damals wollten sie mich mitnehmen, aber ich konnte nicht fortkommen, und jetzt sind sie wieder da und wollen mich mitnehmen, und ich will auch gehen, da kannst du sicher sein.«