Buchhandlung Spazierer

Suche

Wildes DenkenOverlay E-Book Reader

Wildes Denken

Europa im Dialog mit spirituellen Kulturen der Welt | Rüdiger Sünner

E-Book (EPUB)
2020 Europa Verlag Gmbh & Co. Kg
288 Seiten
ISBN: 978-3-95890-314-2

Rezension verfassen

€ 15,99

in den Warenkorb
  • EPUB sofort downloaden
    Downloads sind nur in Österreich möglich!
  • Als Hardcover erhältlich
Kurztext / Annotation
In seinem berühmten Buch 'Das wilde Denken' beschrieb der französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss die ganzheitliche, bildhafte und mit der Natur verbundene Weltsicht indigener Kulturen. Dieses 'wilde Denken' sieht - anders als das dualistische Weltbild westlicher Tradition - eher fließende Übergänge zwischen Mensch und Natur, Realität und Geisterwelt, Leben und Tod, was Rüdiger Sünner an ausgewählten Beispielen aus Amerika, Afrika, Asien und Ozeanien eindrucksvoll veranschaulicht. Indigene Kulturen halten die Natur für durchgängig beseelt und glauben an ein Fortleben der Seele nach dem Tode, egal ob in Form von Wiedergeburt, Seelenwanderung oder Ahnenkult. Solche Auffassungen werden in unserem wissenschaftlich bestimmten Weltbild schnell als 'esoterisch' abgetan, obwohl Europa über Jahrtausende selbst Ausprägungen eines 'wilden Denkens' kannte.
Rüdiger Sünner, seit Jahrzehnten auf der Suche nach spirituellen Traditionen, zeigt anschaulich, welche Formen dieses Denken in verschiedenen Kulturen angenommen hat und welche Inspirationen wir gerade im Zeitalter von Naturzerstörung, Klimawandel und ökonomischem 'Steigerungszwang' daraus ziehen können. 'Wildes Denken' kann zu einer neuen Identität Europas beitragen, zu der auch die Mythen, spirituelle Traditionen und Weisheitslehren gehören.

Rüdiger Sünner, geb. 1953 in Köln, studierte Musik, Musikwissenschaften, Germanistik und Philosophie. 1985 promovierte er über die Kunstphilosophie von Theodor W. Adorno und Friedrich Nietzsche. Anschließend studierte er an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB). Seit 1991 lebt er als freier Autor, Filmemacher und Musiker in Berlin.

Seine vielfältigen Publikationen und Filme beschäftigen sich vor allem mit spirituellen Grenzgebieten, so etwa 'Schwarze Sonne - Mythologische Hintergründe des Nationalsozialismus' (1996), 'Das kreative Universum - Naturwissenschaft und Spiritualität im Dialog' (2010), 'Nachtmeerfahrten - Eine Reise in die Psychologie C. G. Jungs' (2011), 'Mystik und Widerstand - Zur Erinnerung an Dorothee Sölle' (2013), 'Zeige deine Wunde - Kunst und Spiritualität bei Joseph Beuys' (2015), 'Gottes zerstreute Funken - Jüdische Mystik bei Paul Celan' (2016) und 'Engel über Europa - Rilke als Gottsucher' (2018).

Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

IM PALAST DER MYTHEN

Vor ein paar Jahren besuchte ich ein letztes Mal das Ethnologische Museum in Berlin-Dahlem, bevor es für immer seine Pforten schloss, um ins Humboldt Forum in die Mitte der Stadt umzuziehen, wo seine Sammlungen ab Mitte 2021 gezeigt werden sollen. Viele Male schon hatte ich dieses riesige Ausstellungsgebäude aufgesucht, in dessen Depots über 500 000 ethnographische und kulturhistorische Sammlerstücke aus aller Welt lagern. Während meiner Studienzeit an der Freien Universität Berlin in den 1980er-Jahren war es zu einer zweiten geistigen Heimat für mich geworden. Ich besuchte damals häufig Seminare und Vorlesungen in der »Rostlaube«, einer Zweigstelle der Freien Universität. In längeren Pausen zwischen Lehrveranstaltungen ging ich manchmal hinüber zum Museum, das nur fünf Minuten Fußweg entfernt lag.

Das ehemalige Ethnologische Museum in Berlin Dahlem

Dort empfing mich eine andere Welt. Während in den kahlen Seminarräumen der FU die auf Logik und Empirie beruhende wissenschaftliche Methodik gelehrt wurde, öffnete sich im Dämmerlicht des Ethnologischen Museums ein Reich der Bilder und Träume. Rätselhafte Masken von indianischen und afrikanischen Kulturen waren dort zu bewundern, Ahnenpfähle aus der Südsee und religiöse Skulpturen aus Indien, Tibet und China. Es wimmelte von Göttern, Geistern und Dämonen aus allen Teilen der Welt, die in mir zunächst nur grenzenloses Staunen hervorriefen. Bei meinem letzten Besuch las ich in einer Vitrine den Hinweis, dass für bestimmte Völker Asiens selbst in einem Reiskorn eine Seele wohnt, und ein doppelköpfiges afrikanisches »Krafttier« wurde so gedeutet, dass das eine Antlitz zum Dorf und das andere zur Welt der Toten schaut. Alles war in diesen mythologischen Kulturen beseelt, und das Leben der Seele endete auch nicht mit dem physiologischen Sterben des Körpers.

Gesichtsmaske aus der Republik Kongo, mit deren Hilfe der Träger in die Geisterwelt schauen kann

Einem ganz anderen Geist begegnete ich, wenn ich nach solchen Erlebnissen wieder zur Universität zurückkehrte, um an Vorlesungen oder Seminaren teilzunehmen. An der FU war kein Platz für mythologische oder gar spirituelle Vorstellungen, hier herrschte der kühle Geist der wissenschaftlichen Vernunft. Es ging nicht um Götter oder Geister, sondern alles musste mithilfe von Fakten und logischen Verknüpfungen erklärt werden. Hier dominierte die Wissenschaft als Erbe der Aufklärung, die vor knapp 400 Jahren in Europa begonnen hatte, sich von allen metaphysischen Gedanken zu befreien, damit der Mensch sich seines »eigenen Verstandes ohne Anleitung eines anderen« (Immanuel Kant) bediente.

Es gab durchaus spannende Veranstaltungen für mich an der Universität, etwa über Theodor W. Adorno, Martin Heidegger, Paul Celan oder die deutsche Romantik. Aber als spirituell Suchender fand ich an der FU keine Antworten. Das Wort »Spiritualität« tauchte während meines gesamten Studiums nicht ein einziges Mal auf, und der Begriff »Mythos« war an der Universität in der Regel mit einem negativen Beigeschmack versehen. Meistens wurde er synonym für Schein, Lüge, Verschleierung und Illusion eingesetzt, bedeutete also das genaue Gegenteil der auf »Wahrheit« hin orientierten Wissenschaft.

Im benachbarten Ethnologischen Museum dagegen regierte die Welt der Mythen in unumschränkter und nicht infrage gestellter Pracht. In diesen Hallen wurden meine künstlerischen Seiten aktiviert, die an der Universität meistens brachlagen: Fähigkeiten des intuitiven, imaginativen und assoziativen Denkens, die in den Seminarräumen eher störten. Oft hatte ich den Eindruck gehabt, dass ich diese für mich so wertvollen Eigenschaften mit meinem Mantel an der Garderobe abgeben musste, um sie nicht in die Hörsäle zu tragen, wo nur »klares« und »logisches« Denken gefragt war. Meine subjektiven Gedanken und Assoziat