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Der HammerOverlay E-Book Reader

Der Hammer

Roman | Dirk Stermann

E-Book (EPUB)
2019 Rowohlt Verlag Gmbh
Auflage: 1. Auflage
448 Seiten
ISBN: 978-3-644-00152-7

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€ 9,99

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Kurztext / Annotation
Mit 15 Jahren kommt der begabte Joseph Hammer an den Wiener Hof, wo er 'Sprachknabe', Dolmetscher, werden soll. Joseph lernt Türkisch, Arabisch, Persisch, wird nach Konstantinopel entsandt, erlebt den Feldzug gegen Napoleon in Ägypten, sieht, was er nur aus Büchern kannte. Sein Leben lang vermittelt er zwischen Orient und Okzident und ist doch nirgends zuhause. Dass die Welt sein Genie nicht erkennt, schmerzt ihn. Er muss wohl erst etwas ganz Großes leisten: ein vollständiges Exemplar der Geschichten aus 1001. Nacht finden und übersetzen. Ein Leben zwischen dem Morgenland und dem genauso fremden Wien um 1800, Stermann erzählt es mit sanfter Ironie: ein mitreißender Roman um ein großes Thema: Die Sucht nach der Ferne, der Wunsch nach Unsterblichkeit.

Dirk Stermann, geboren 1965 in Duisburg, lebt seit 1987 in Wien. Er zählt zu den populärsten Kabarettisten und Fernsehmoderatoren Österreichs und ist auch in Deutschland durch Fernseh- und Radioshows sowie durch Bühnenauftritte und Kinofilme weit bekannt. 2016 erschien sein Roman Der Junge bekommt das Gute zuletzt, und NDR Kultur urteilte: «Ein lustiger deutscher Medienstar, der als österreichischer Romancier sehr ernst genommen werden sollte.» 2019 folgte Der Hammer und 2022 Maksym.

Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

1. Kapitel Der Sprachknabe

Zwei, drei. Jede Reise beginnt mit dem ersten Schritt, jeder Schultag um sieben Uhr mit dem Gebet bei den Peiserstöcks. Josephs Kostherr war ein geborener Bauer, klein und verwachsen, und hatte es sich gemeinsam mit seiner Frau auf der niedersten Stufe krassester Bigotterie eingerichtet. Ihre Hauptsorge für den ihnen anvertrauten Kostknaben bestand darin, das regelmäßige Messehören zu überwachen und ihm die unzähligen Gotteshäuser der Hauptstadt zu zeigen. Die über zweihundert Kirchen und ihre Glocken. Peiserstöck, der Kürbisgesichtige, liebte die heiligen Stimmen der Glocken. Und es läutete immer in Wien. Fünfzig verschiedene Klänge zur Raum- und Zeitorientierung. Wien markierte das Zentrum des Glockeneuropas, die Glocken waren die offizielle Stimme der Reichshaupt- und Residenzstadt. Die bekannteste Glocke, die Pummerin, hing im Südturm des Stephansdoms. 1711 von Johann Achamer aus türkischen Kanonen gegossen, die man bei der glorreichen Verteidigung der Stadt kein Menschenalter zuvor erbeutet hatte, wog sie mehr als 40000 Pfund inklusive Klöppel und Joch, aber ihren tiefen Klang hörte man nur zu besonderen Anlässen. Am Heiligen Abend, am Stephanitag, zum Jahreswechsel, zur Osternachtfeier, zu Fronleichnam, Mariä Himmelfahrt und an Allerseelen. Der Hausinspektor Peiserstöck stand dann jedes Mal mit geschlossenen Augen vor dem Dom und ließ sich vom tiefen Klang der Königin der Glocken ergreifen.

Die Wohnung der Peiserstöcks gehörte zum Klangterritorium von St. Anna. Die Glocke von St. Anna war Joseph inzwischen die vertrauteste. Sie läutete ihn durch den Tag. Morgens, mittags das Angelusläuten, dazu das Freitagsläuten, mit dem man einmal wöchentlich der Todesstunde Jesu gedachte, mehrmalige Aufrufe zum Gottesdienst, jeweils unterschiedlich intoniert an Werk-, Sonn- und hohen Festtagen. Das geübte katholische Ohr kannte sich aus. Dazu läutete es bei besonderen Anlässen wie Geburt, Taufe, Hochzeit und Begräbnissen. Die Glocken warnten vor Sturm und gefährlichen Angriffen, sie riefen zu Versammlungen und zum Schließen der Wirtshäuser. Bei Bränden bimmelte die «Feuerin», das «Zügenglöcklein» begleitete Sterbende, die eben in den letzten Zügen lagen. Beim Tod eines Mannes läutete es dreimal, bei dem einer Frau zweimal, bei einem Kind einmal. Für die Peiserstöcks hatte es im letzten Jahr zweimal geläutet. Zweimal einmal.

«Ich muss los», sagte Joseph.

Die Peiserstöcks bekreuzigten sich. Für den Sohn, der am Faulfieber, und die Tochter, die an der Bangigkeit der Kinder zugrunde gegangen war. Schon stand er bei der Tür.

«Eins?»

Der Peiserstöck nickte, soweit Joseph das durch die dichten Schwaden des Herdfeuers erkennen konnte.

«Zwei, drei.» Das Hühnchen und das Judenohr. So zählten die Soldaten in Paris seit ihrer Revolution. Die Franzosen hatten ihr Hirn unter der Guillotine verloren. Und welcher Dummkopf war auf die Idee gekommen, den Monaten neue Namen zu geben und der Uhrzeit einen neuen Verlauf? Nicht Oktober, November und Dezember, sondern Weinlese, Nebel und Gefrierender Nebel? Vendémiaire, Brumaire und Frimaire? Joseph war im Juni geboren, einem warmen Tag in der Steiermark. Für die Franzosen hieß der Juni nun «Wiese». War er also am 9. Wiesentag geboren? 1774 zu Graz im schönen Monat Wiese? Wie würde er das einem Franzosen sagen müssen? Und wie trifft man eine Verabredung, wenn der Herr aus Paris glaubt, der Tag habe zehn Stunden zu hundert Minuten und hundert Sekunden? Wie sagt man das, wenn man einen Revolutionssoldaten am 2. Januar um drei Uhr zu treffen gedenkt? Hühnchen Schnee Judenohr? Die Franzosen hatten bereits eigene Uhren. Revolutionsuhren, auf denen die verwirrten Zeiger viel länger für jede Umrundung brauchten. Abbé Bruck hatte eine solche Uhr aus der Werkstatt des Uhrmachers Lenoir. Er hatte sie Joseph gezeigt, und der Bub hatte l