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Die Zweisamkeit der Einzelgänger

Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 4 | Joachim Meyerhoff

E-Book (EPUB)
2017 Verlag Kiepenheuer & Witsch Gmbh
Auflage: 1. Auflage
416 Seiten
ISBN: 978-3-462-31722-0

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Kurztext / Annotation
Drei Frauen, ein Mann und das Wirrwarr der Emotionen - der vierte Band der erfolgreichen Reihe 'Alle Toten fliegen hoch' von Joachim Meyerhoff Eine blitzgescheite Studentin, eine zu Exzessen neigende Tänzerin und eine füllige Bäckersfrau stürzen den Erzähler in schwere Turbulenzen. Die Gleichzeitigkeit der Ereignisse ist physisch und logistisch kaum zu meistern, doch trotz aller moralischer Skrupel geht es ihm so gut wie lange nicht. Am Anfang stand eine Kindheit auf dem Anstaltsgelände einer riesigen Psychiatrie mit speziellen Freundschaften zu einigen Insassen und der großen Frage, wer eigentlich die Normalen sind. Danach verschlug es den Helden für ein Austauschjahr nach Laramie in Wyoming. Fremd und bizarr brach die Welt in den Rocky Mountains über ihn herein. Kaum zurück bekam er einen Platz auf der hoch angesehenen, aber völlig verstörenden Otto-Falckenberg-Schule, und nur die Großeltern, bei denen er Unterschlupf gefunden hatte, konnten ihn durch allerlei Getränke und ihren großbürgerlichen Lebensstil vor größerem Unglück bewahren. Nun ist der fragile und stabil erfolglose Jungschauspieler in der Provinz gelandet und begegnet dort Hanna, einer ehrgeizigen und überintelligenten Studentin. Es ist die erste große Liebe seines Lebens. Wenige Wochen später tritt Franka in Erscheinung, eine Tänzerin mit unwiderstehlichem Hang, die Nächte durchzufeiern und sich massieren zu lassen. Das kann er wie kein Zweiter, da es der eigentliche Schwerpunkt der Schauspielschule war. Und dann ist da auch noch Ilse, eine Bäckersfrau, in deren Backstube er sich so glücklich fühlt wie sonst nirgends. Die Frage ist: Kann das gut gehen? Die Antwort ist: nein.

Joachim Meyerhoff, geboren 1967 in Homburg/Saar, aufgewachsen in Schleswig, hat als Schauspieler an verschiedenen Theatern gespielt, unter anderem am Burgtheater in Wien, am Schauspielhaus in Hamburg, an der Berliner Schaubühne und den Münchner Kammerspielen. Dreimal wurde er für seine Arbeit zum Schauspieler des Jahres gewählt. 2011 begann er mit der Veröffentlichung seines mehrteiligen Zyklus »Alle Toten fliegen hoch«. Seine Romane wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt 2024 mit dem Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor.

Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

Inhaltsverzeichnis 2.

Es war noch erstaunlich warm draußen, und wir spazierten scheinbar ziellos durch die Stadt. Durch Bielefeld. Ich hatte mir die Flaschenhälse zwischen die Finger geklemmt, drei pro Hand. Sie lächelte und sagte nur ein einziges Wort: »Biertatzen.« Es war angenehm, neben ihr zu gehen. Unsere Schrittlängen verstanden sich gut. Wir setzten uns auf eine Bank, auf der in breiter Sprühdosenschrift Sachbeschädigung verboten stand, ich reihte die Flaschen vor uns auf und wir aßen die entwendeten Hähnchenschnitzel. Geschickt ploppte ich an einer scharfkantigen Metallstrebe der Rückenlehne die beiden Kronkorken hinunter und bekam dafür einen anerkennenden und doch auch belustigten Blick mit einseitig hochgezogener Augenbraue. Sie sagte »Oh hauahauaha«, nahm das Bier und trank mit geschlossenen Augen, wobei sie Ober- und Unterlippe wie ein Kleinkind über den Flaschenhals stülpte. So suggelte sie die halbe Flasche leer. »Ahhhh.« Andauernd wirkte das, was sie tat oder wie sie mich ansah, wie ein Zitat von etwas anderem. Sie machte nicht nur 'Ahhhh!' wie jemand, der durstig mehrere Schlucke Bier getrunken hat. Sie machte 'Ahhhh!' wie jemand, der jemanden nachmacht, der 'Ahhhh!' macht.

Sie spuckte auf ihre Serviette: »Entschuldige, ich kann das nicht länger mitansehen. Du bist ja noch total geschminkt.« Und eh ich mich wegdrehen oder etwas sagen konnte, war sie an mich herangerückt und wischte mir mit einem nassen Zipfel am Augenlid herum. »Keine Sorge, ich mach das täglich bei mir. Halt mal still.« Akribisch reinigte sie mir die Augen. Sie roch gut, sehr dezent nach sich selbst und nach etwas anderem. Aber da war wieder dieses rauchige Kratzen in meinem Hals, diese Nervosität im Rachen, ein Kribbeln im Kehlkopf, ein nicht wegzuschluckender Aschegeschmack. »Siehst ja bisschen transig aus. Ob Bielefeld die richtige Stadt für solche Aufmachungen ist, wage ich zu bezweifeln. Oder ist das etwa Absicht?«

Da hatte sie tatsächlich ins Schwarze getroffen. Ich mochte es, mich nicht vollständig abzuschminken und nach der Vorstellung mit Lidstrich und dunklen Wimpern herumzulaufen. »Nee, aber das ist immer so mühsam«, rechtfertigte ich mich. »Bist du fertig?« »Gleich.« Immer wieder sah ich, wie ihre Zungenspitze reptilienschnell zwischen den Lippen hervorschoss und die schon arg verschmierte Serviette einspeichelte. Ich roch ihre Spucke in meinem Gesicht. »So, guck mich mal an. Ja, besser. Wie wäre es mit einer Zigarette?« »Gerne.«

Es war mir trotz massiver Widerstände meines durch viele Jahre Sport, ja Hochleistungssport, trainierten Körpers gelungen, mich von einem reinen Gelegenheitsraucher zu einem stabilen Gewohnheitsraucher zu steigern. Anfänglich war meine kerngesunde Physis geradezu entrüstet, wenn ich rauchte. Mir wurde übel, meine Lunge krampfte sich empört zusammen, jedes Lungenbläschen rief und jede Bronchie brüllte 'Was machst du denn da? Spinnst du? Lass das!', und mein im Kleinkindmodus stecken gebliebener Geschmackssinn meldete 'Alarmstufe Rot'. Mein Vater hatte jahrzehntelang Roth-Händle geraucht, und seine Krankheit, sein viel zu früher Tod hatte sicherlich auch mit den außerordentlich starken Zigaretten zu tun gehabt. Diese Tatsache zu ignorieren, wider besseres Wissen zu rauchen, war ein Genuss für mich, ein Vernunfttrotz, der im Laufe der nächsten Wochen und Monate noch auf andere Lebensbereiche übergreifen sollte. Das Falsche zum Richtigen umzuwidmen, wurde zu einer echten Obsession.

»Es tut mir leid, dass ich voll verpasst habe, dich zu fragen, wie du eigentlich heißt. Jetzt ist das ja fast schon peinlich.« Sie gab mir eine Zigarette und sagte: »Oh wie schön, jetzt kann ich einen der ganz großen Sätze des zwanzigsten Jahrhunderts sagen: Hast du mal Feuer?« Ich klopfte mir auf die Hosentaschen: »Nee, Mist.« »Ich aber.« Sie griff in die Tasche ihres Mantels, eines schwarzen secondhand verlebten Trenchcoats, dessen



Joachim Meyerhoff, geboren 1967 in Homburg/Saar, aufgewachsen in Schleswig, ist seit 2005 Ensemblemitglied des Wiener Burgtheaters. In seinem sechsteiligen Zyklus 'Alle Toten fliegen hoch' trat er als Erzähler auf die Bühne und wurde zum Theatertreffen 2009 eingeladen. 2007 wurde er zum Schauspieler des Jahres gewählt. Für seinen Debütroman wurde er 2011 mit dem Franz-Tumler-Literaturpreis und 2012 mit dem Förderpreis zum Bremer Literaturpreis ausgezeichnet. Im September 2016 erhielt er den Nicolas-Born-Debütpreis, den Euregio-Schüler-Literaturpreis, im Januar 2017 die Carl-Zuckmayer-Medaille des Landes Rheinland-Pfalz. Im Mai 2017 wurde Joachim Meyerhoff in der Sektion Darstellende Kunst in die Akademie der Künste aufgenommen und von der Fachzeitschrift Theater heute im September zum Schauspieler des Jahres 2017 gewählt.