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Eure Heimat ist unser Albtraum

Mit Beiträgen von Sasha Marianna Salzmann, Sharon Dodua Otoo, Max Czollek, Mithu Sanyal, Olga Grjasnowa, Margarete Stokowski uvm. | Fatma Aydemir; Hengameh Yaghoobifarah

E-Book (EPUB)
2019 Ullstein
Auflage: 1. Auflage
182 Seiten
ISBN: 978-3-8437-2042-7

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Kurztext / Annotation
»Das sind die Stimmen, die wir hören müssen. Damit es in diesem Land nicht noch finsterer wird.« Margarete Stokowski Wie fühlt es sich an, tagtäglich als 'Bedrohung' wahrgenommen zu werden? Wie viel Vertrauen besteht nach dem NSU-Skandal noch in die Sicherheitsbehörden? Was bedeutet es, sich bei jeder Krise im Namen des gesamten Heimatlandes oder der Religionszugehörigkeit der Eltern rechtfertigen zu müssen? Und wie wirkt sich Rassismus auf die Sexualität aus? Dieses Buch ist ein Manifest gegen Heimat - einem völkisch verklärten Konzept, gegen dessen Normalisierung sich 13 Autor_innen wehren. Zum einjährigen Bestehen des sogenannten 'Heimatministeriums' sammeln Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah schonungslose Perspektiven von Denker_innen, die Rassismus und Antisemitismus erfahren. In persönlichen Essays geben sie Einblick in ihren Alltag und halten Deutschland den Spiegel vor: einem Land, das sich als vorbildliche Demokratie begreift und gleichzeitig einen Teil seiner Mitglieder als »anders« markiert, kaum schützt oder wertschätzt. Mit Beiträgen von Sasha Marianna Salzmann, Sharon Dodua Otoo, Max Czollek, Mithu Sanyal, Olga Grjasnowa uvm.

Fatma Aydemir, 1986 in Karlsruhe geboren, war Kolumnistin und Redakteurin bei der taz. 2017 erschien ihr Debütroman Ellbogen, für den sie mit dem Franz-Hessel-Preis ausgezeichnet wurde. Ihr zweiter Roman Dschinns wurde mit dem Robert-Gernhardt-Preis und dem Preis der LiteraTour Nord 2023 ausgezeichnet und stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises.

Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

Sichtbar

von Sasha Marianna Salzmann

Ich werde nie wissen, was es heißt, unsichtbar zu sein. Ich werde nie wissen, wie es ist, unvorsichtig sein zu können beim Küssen im Park, einfach draufloszuknutschen. Was es heißt, durch die Straßen zu streifen und nicht damit rechnen zu müssen, dass jemand im Vorbeigehen meine Haare zu berühren versucht. Wie es ist, sich nicht ständig in Selbstgesprächen zu beschwichtigen, wenn man mehrmals am Tag gefragt wird, ob man Deutsch verstehe. Mich in der Menge aufzulösen, ist keine Option für mich. Ich gehöre gleich mehreren Minderheiten an; das kaschieren zu wollen, birgt für mich größere Gefahren, als meine Positionen zu benennen.

Your silence will not protect you2, heißt ein Essayband von Audre Lorde, in dem sie gleich in mehreren Texten die destruktive Kraft von (selbst) auferlegtem Schweigen herausarbeitet: Der einzige Weg, der verhindert, dass das, was man ist, gegen einen verwendet wird, sei das Sprechen über sich, bevor es andere tun. Andernfalls blieben die Angriffe und Beurteilungen der anderen in den Grauzonen der gesellschaftlichen Wahrnehmung, und man wird danach behaupten können, man habe von nichts gewusst.

Ich denke an die Jüdinnen und Juden, die Anfang des 20. Jahrhunderts so damit beschäftigt waren, sich zu assimilieren, dass Hitler sie daran erinnern musste, dass sie nie dazugehören würden und nie erwünscht wären. Diese Menschen wurden jüdisch durch Diskriminierung, durch Ausgrenzung, durch ihren Tod. Viele von ihnen meinten, wenn sie sich als Teil der christlich-deutschen Gesellschaft verstünden, dann seien sie es auch. Einige glaubten der antisemitischen Propaganda und schämten sich ihrer selbst: »Wer sich assimilieren konnte oder wollte, für den war alles, was an den Moschus des Judentums erinnerte, eine Art hässlicher Atavismus, wie ein Fischschwanz, den man noch hinter sich herzieht, nachdem man den Schritt aufs Festland geschafft hat«, schreibt Maria Stepanova in ihrem Roman Nach dem Gedächtnis3. Das Ergebnis ist bekannt. Assimilation führt ins Verderben. Warum versuchen wir also dazuzugehören? Welche Versprechen birgt es, so zu sein wie alle, das »Normalsein«? Und kann man nach den Erfahrungen des letzten Jahrhunderts wirklich glauben, dass man als Minorität in einer Gemeinschaft geschützt wird, wenn man leise ist und sich so unauffällig wie möglich verhält?

Zumindest im jüdischen Kontext bedeutet das Nicht-Auffallen und Nicht-Benennen, dass man nicht vorkommt. Wenn ich meine Kultur nicht feiere, existiert sie nicht, versuchte ich der Frau, die sich mir als Christin vorstellte, zu erklären, als sie mich nach einer Lesung darauf hinwies, dass für sie die Art, wie ich meinen Davidstern gut sichtbar über dem Shirt trage, Exhibitionismus sei.

An diese Frau musste ich denken, als ich in dem Bericht der Antidiskriminierungsstelle des Bundes las, dass 43,8 Prozent der deutschen Bevölkerung voll und ganz oder mindestens tendenziell dem Satz zustimmen: »Homosexuelle sollten aufhören, so einen Wirbel um ihre Sexualität zu machen.« Für die meisten dieser Gruppe ist ihre eigene Sexualität als Norm markiert; sie fordern mein Schweigen, meine Unauffälligkeit und damit mein Verschwinden mit dem Verweis darauf, dass man über Homosexualität nicht mehr sprechen müsse, denn Homos seien längst überall angekommen. Selbst hochrangige Politiker_innen seien offen homosexuell und stünden mit ihrem Lebensstil für die Toleranz der westlichen, christlichen Gesellschaft. Sieht man sich aber die Geschichte von Queerness genauer an, wird deutlich, wie ungesichert und immer aufs Neue umkämpft dieses Feld ist: Das in Deutschland 1872 eingeführte und von den Nazis 1935 verschärfte Homosexuellengesetz unter dem
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