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Muttertag

Kriminalroman | Nele Neuhaus

E-Book (EPUB)
2018 Ullstein
Auflage: 1. Auflage
560 Seiten
ISBN: 978-3-8437-1880-6

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Kurztext / Annotation
Sie hatten ein Geheimnis. Sie mussten sterben. An einem Sonntag. Der neue Bestseller von Nele Neuhaus Im Wohnhaus einer stillgelegten Fabrik wird eine Leiche gefunden. Es handelt sich um den ehemaligen Betreiber des Werks, Theodor Reifenrath, wie Kriminalhauptkommissarin Pia Sander feststellt. In einem Hundezwinger machen sie und ihr Chef Oliver von Bodenstein eine grausige Entdeckung: Neben einem fast verhungerten Hund liegen menschliche Knochen verstreut und die Spurensicherung fördert immer mehr schreckliche Details zutage. Reifenrath lebte sehr zurückgezogen, seit sich zwanzig Jahre zuvor seine Frau Rita das Leben nahm. Im Dorf will niemand glauben, dass er ein Serienmörder war. Rechtsmediziner Henning Kirchhoff kann einige der Opfer identifizieren, die schon vor Jahren ermordet wurden. Alle waren Frauen. Alle verschwanden an einem Sonntag im Mai. Pia ist überzeugt: Der Mörder läuft noch frei herum. Er sucht sein nächstes Opfer. Und bald ist Anfang Mai.

Nele Neuhaus, geboren in Münster / Westfalen, lebt seit ihrer Kindheit im Taunus und schreibt bereits ebenso lange. Ihr 2010 erschienener Kriminalroman Schneewittchen muss sterben brachte ihr den großen Durchbruch, heute ist sie die erfolgreichste Krimiautorin Deutschlands. Außerdem schreibt die passionierte Reiterin Pferde-Jugendbücher und Unterhaltungsliteratur. Ihre Bücher erscheinen in über 30 Ländern. Vom Polizeipräsidenten Westhessens wurde Nele Neuhaus zur Kriminalhauptkommissarin ehrenhalber ernannt.

Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

Prolog
Sonntag, 10. Mai 1981

Er lehnte mit dem Rücken am narbigen Stamm der mächtigen Trauerweide, deren Äste ins Wasser des Sees hingen, und genoss das seltene Glück, völlig allein zu sein. Dies war sein Lieblingsort. Hier konnte er ungestört seine Gedanken schweifen lassen. Hinter dem Vorhang aus Laub fühlte er sich geborgen und sicher, weil er wusste, dass ihm niemand hierherfolgte. Die Jüngeren entfernten sich nie so weit vom Haus, aus Angst vor den Strafen, die es unweigerlich geben würde, wenn man erwischt wurde. Die Älteren waren zu faul, so weit zu laufen, erst recht an einem so warmen Tag wie heute. Sie hingen am liebsten herum, rauchten heimlich, hörten Musik, drangsalierten die Kleinen und machten sich gegenseitig fertig, bis zum Schluss irgendwer heulte, meistens eins der Mädchen. Er hasste sie. Alle. Aber am meisten hasste er IHN. Wenn er nicht rechtzeitig zurück war, würde ER ihn bestrafen. Manchmal, wenn ER gut gelaunt war, gab es nur eine Tracht Prügel. War ER schlecht gelaunt, wurde es schlimmer. Viel schlimmer. Er spürte, wie sein Mund trocken wurde vor Angst, nur beim Gedanken daran, und er zwang sich, an andere Dinge zu denken. Am liebsten dachte er an Mama, seine schöne Mama, die so weit weg war. Sie roch so gut. Und wenn sie ihn umarmte, ihn »mein kleiner Prinz« nannte und mit ihm in den Zoo ging oder in ein vornehmes Café in Frankfurt, dann war er glücklich. Früher hatte er geglaubt, was sie ihm versprach, wenn sie ihn besuchen kam. Nämlich, dass sie ihn bald, ganz bald, zu sich holen würde und sie dann eine richtige Familie wären. Immer wenn es besonders schlimm war, hatte er sich ausgemalt, wie es wäre, bei Mama zu wohnen. Er hatte nicht verstanden, warum er hier sein musste, aber der Gedanke, dass es nur vorübergehend war und sie ihn bald holen würde, hatte ihn getröstet und alles ertragen lassen. Manchmal hatte er befürchtet, sie würde ihn vergessen, aber dann kam sie wieder und alles war gut. Wenigstens für ein paar Stunden. Als er noch kleiner war, hatte er beim Abschied geweint und sich an sie geklammert, weil er nicht wollte, dass sie wieder wegfuhr und ihn zurückließ. Das machte er jetzt nicht mehr, schließlich war er schon dreizehn, da heulte man nicht mehr wie ein Baby.

Noch immer hoffte er insgeheim, dass sie ihr Versprechen irgendwann wahr machen würde. Immerhin hatte er eine Mama. Die anderen nicht. Ach, wenn er das doch bloß für sich behalten hätte! Wie dumm von ihm, das ausgerechnet zu IHM zu sagen! Seitdem verspottete ER ihn und sagte gemeine Sachen über Mama. »Du bist nur ein hässlicher, kleiner Bastard«, hatte er einmal gesagt. »Wie blöd bist du eigentlich? Die hat dich abgeschoben, weil sie dich nicht will. Die holt dich niemals, kapiert? Wann schnallst du das endlich, du Trottel?«

Er presste die Augen zusammen, um nicht zu heulen. Es tat so schrecklich weh. Beim letzten Mal, als Mama ihn besucht hatte, hatte er all seinen Mut zusammengenommen und sie gefragt. Ob sie ihn nicht haben wollte, weil er ein hässlicher, kleiner Bastard sei. Da hatte sie aufgehört zu lächeln und ihn ganz komisch angeguckt. »Das darfst du nie, nie, niemals glauben, mein kleiner Prinz«, hatte sie geflüstert und ihn ganz fest in die Arme genommen. Das war am Muttertag vor zwei Jahren gewesen. Letztes Jahr war sie nicht gekommen. Und heute würde sie wohl auch nicht mehr kommen, um ihn abzuholen.

Er schluckte die Tränen herunter, atmete tief den erdigen Duft ein, den der Waldboden verströmte. Weit über ihm am wolkenlosen blauen Himmel zog ein Bussard träge seine Kreise. Ab und zu ließ er einen Schrei erklingen, der ein bisschen wie das Miauen einer Katze klang. Insekten summten geschäftig um ihn herum. Im Unterholz in der Nähe raschelte irgendein kleines Tier, eine Maus vielleicht. Er stellte sich vor, wie ihr kleines Mäuseherz vor Angst panisch pochte, weil sie den Bussard hörte und nicht wusste, ob und wann er herabstoßen würde, pfeilschnell und lautlos, u