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Brief an MatildaOverlay E-Book Reader

Brief an Matilda

Ein italienisches Leben | Andrea Camilleri

E-Book (EPUB)
2019 Rowohlt Verlag Gmbh
Auflage: 1. Auflage
128 Seiten
ISBN: 978-3-644-00312-5

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€ 9,99

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Kurztext / Annotation
'Liebe Matilda, ich habe wenig im Leben gelernt, und davon erzähle ich Dir jetzt.' Andrea Camilleri ist über neunzig Jahre alt, seine jüngste Urenkelin fast vier. Während er schreibt, wuselt die kleine Matilda unter seinem Schreibtisch herum und spielt vor sich hin. Da beschließt er, ihr einen langen Brief zu schreiben. Sie soll ihn lesen, wenn sie groß ist. Auf Seiten, die voller Gefühl, Humor und Aufrichtigkeit sind, durchlebt Camilleri noch einmal die Etappen seines Lebens, von Kindheitserinnerungen an die Mussolini-Ära über die bleiernen Jahre und Berlusconi bis hin zu einem Mafia-Blutbad in seiner Heimatstadt. Und er erzählt von der ersten Begegnung mit Rosetta, der Liebe seines Lebens. Er schreibt über seine sizilianischen Wurzeln, über Liebe, Freundschaft, Politik, Literatur. Dabei hat Camilleri durchaus den Mut, Fehler zuzugeben. Es gibt keine Sicherheiten, die er Matilda mitgeben kann. Dafür aber die wertvolle Kunst des Zweifels. Mit Leichtigkeit erzählt, pointiert, humorvoll: ein Geschenk fürs Leben.

Andrea Camilleri wurde 1925 in Porto Empedocle, Sizilien, geboren. Er war Schriftsteller, Drehbuchautor und Regisseur. Seine erfolgreichste Romanfigur ist der sizilianische Commissario Montalbano. Insgesamt verfasste Camilleri mehr als 100 Bücher und galt als eine kritische Stimme in der italienischen Gegenwartsliteratur. Andrea Camilleri war verheiratet, hatte drei Töchter und vier Enkel und lebte in Rom. Er starb am 17. Juli 2019 im Alter von 93 Jahren in Rom.

Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

Meine liebe Matilda,

diesen langen Brief schreibe ich dir wenige Tage vor meinem zweiundneunzigsten Geburtstag. Du bist jetzt fast vier Jahre alt. Noch kennst du das Alphabet nicht, doch als junges Mädchen wirst du diesen Brief lesen, hoffe ich.

Ich schreibe dir blindlings im buchstäblichen wie im übertragenen Sinn. Im buchstäblichen Sinn, weil die Sehkraft mich in den letzten Jahren allmählich verlassen hat. Mittlerweile kann ich nicht mehr lesen und schreiben, nur noch diktieren. Im übertragenen Sinn, weil ich mir nicht vorstellen kann, wie die Welt in zwanzig Jahren aussehen wird, die Welt, in der du leben musst.

Denn auch in den letzten zwanzig Jahren hat es sehr viele und manchmal völlig unerwartete Veränderungen gegeben. Die Welt sieht nicht mehr so aus wie in meiner Jugend und meiner frühen Erwachsenenzeit. Politische, wirtschaftliche, kulturelle und gesellschaftliche Umbrüche haben sie gewandelt, aber auch wissenschaftliche Entdeckungen, der Einsatz modernster Technologien, die Auswanderungsströme von einem Kontinent zum anderen und das fast endgültige Scheitern unseres Traums von der Europäischen Gemeinschaft.

Doch warum verspüre ich das dringende Bedürfnis, dir zu schreiben?

Auf diese Frage kann ich nur mit einer gewissen Bitterkeit antworten: Mir ist sehr wohl bewusst, dass das Alter Grenzen setzt und ich daher nicht in den Genuss kommen werde, dich Tag für Tag aufwachsen zu sehen, deine ersten Gedanken zu erfahren, die Entwicklung deines Geistes zu verfolgen. Kurz, ich werde keine Gespräche mit dir führen können. Dieser Brief soll ein kleiner Ersatz für den Dialog sein, der niemals zwischen uns stattfinden wird. Darum muss ich dir, glaube ich, zuallererst von mir erzählen. Vielleicht wird deine Mutter Alessandra über mich sprechen, aber es ist mir lieber, wenn ich dir mit eigenen Worten von mir und meinem Leben berichten kann. Und ich wünsche mir von ganzem Herzen, dass einiges davon, zum Beispiel die Zeit des Nationalsozialismus und Faschismus, Rassismus, Vernichtungslager, Krieg und Diktatur dir sehr weit entfernt und veraltet vorkommen werden.

 

Ich bin 1925 in Porto Empedocle geboren, einem kleinen Ort im Süden Siziliens. Die Menschen dort waren zum größten Teil Fischer, Hafenarbeiter, Fuhrleute und Bauern. Es gab nur wenige Angestellte und noch weniger Geschäftsleute. In der ersten Klasse war ich von Mitschülern umgeben, die fast alle in ärmlichen Verhältnissen lebten. Stell dir vor, die Kinder der Bauern trugen ihre Schuhe auf dem Schulweg um den Hals gebunden, um sie nicht abzunutzen, und zogen sie erst an, wenn sie das Klassenzimmer betraten. Das Pausenbrot, das Mama mir jeden Morgen in den Ranzen steckte, konnte ich, wenn ich mich recht erinnere, nie allein aufessen. Fast immer habe ich es mit anderen geteilt, weil ich die neidischen, hungrigen Blicke meiner Klassenkameraden nicht ertragen konnte.

Als ich geboren wurde, war Benito Mussolini seit drei Jahren italienischer Regierungschef und hatte seinen Plan, das Land einer faschistischen Diktatur zu unterwerfen, schon weitgehend umgesetzt. Ich vermute, du wirst mit dem Begriff «faschistisch» nicht viel verbinden können, darum versuche ich dir zu erklären, was in jenen Jahren geschehen ist.

Das für Italien siegreiche Ende des Ersten Weltkriegs im Jahr 1918 hätte dem Land theoretisch eine Zeit wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Stabilität bringen können. Aber es kam anders. Die Soldaten, die von der Front zurückkehrten, fanden kaum Arbeit, denn das, was viele Jahre eine Kriegsindustrie gewesen war, konnte nicht schnell genug in eine Industrie des Friedens umgewandelt werden. Auch gab es viele Konflikte zwischen Arbeitgebern und Arbeitern, und sie wurden offen ausgetragen. Von all den Versprechen, die man den Soldaten während des Kriegs gemacht hatte, war nicht eines eingelöst worden. Straßenkämpfe zwischen Polizisten und Kriegsheimkehrern oder Arbeitern war