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Das Feld

Robert Seethaler

E-Book (EPUB)
2018 Hanser Berlin
256 Seiten
ISBN: 978-3-446-26066-5

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Kurztext / Annotation
Wenn die Toten auf ihr Leben zurückblicken könnten, wovon würden sie erzählen? Einer wurde geboren, verfiel dem Glücksspiel und starb. Ein anderer hat nun endlich verstanden, in welchem Moment sich sein Leben entschied. Eine erinnert sich daran, dass ihr Mann ein Leben lang ihre Hand in seiner gehalten hat. Eine andere hatte siebenundsechzig Männer, doch nur einen hat sie geliebt. Und einer dachte: Man müsste mal raus hier. Doch dann blieb er. In Robert Seethalers neuem Roman geht es um das, was sich nicht fassen lässt. Es ist ein Buch der Menschenleben, jedes ganz anders, jedes mit anderen verbunden. Sie fügen sich zum Roman einer kleinen Stadt und zu einem Bild menschlicher Koexistenz.

Robert Seethaler, geboren 1966 in Wien, ist ein vielfach ausgezeichneter Schriftsteller und Drehbuchautor. Seine Romane 'Der Trafikant' (2012) und 'Ein ganzes Leben' (2014) wurden zu großen internationalen Publikumserfolgen. 2018 ist sein neuer Roman 'Das Feld' erschienen. Robert Seethaler lebt in Wien und Berlin.

Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

Gerd Ingerland

»Es gibt auf dieser Welt Schafe und Wölfe, aber es gibt keine Wahl. Du kannst es dir nicht aussuchen, verstehst du? Es ist keine Entscheidung, es ist Schicksal. Aber du hast Glück: Du bist ein Wolf. Du bist stark und ausdauernd. Du wirst nicht gefressen. Du frisst. Niemand weiß, wie Wolfsfleisch schmeckt. Das Schicksal ist auf deiner Seite. Du bist einer von uns.«

Ich war zehn, als Papa das zu mir sagte. Er arbeitete in der Bank, und in seinem Schrank hingen etwa zwanzig Krawatten und eine Reihe gebügelter und gebürsteter Anzüge. »Es ist gut, wie es ist, und es wird immer noch besser«, sagte er, wenn er auf der Couch saß und im Zimmer umherblickte. Mama, die neben ihm saß, legte ihre Hand auf seine und nickte. Ihre Finger spielten mit den langen schwarzen Haaren auf seinem Handrücken. Ich habe nie begriffen, ob sie die Haare mochte oder hasste. So wie sie an ihnen zog und zupfte, sah es aus, als wollte sie sie ausreißen.

Auch meine erste Erinnerung hat mit Haaren zu tun. Ich bin winzig klein und sitze auf dem Boden hinter einem Vorhang. Irgendwo steht ein Fenster offen, der Vorhang bewegt sich, durch den Stoff flimmert Sonnenlicht. Dann wird er weggezogen und meine Mutter steht da und weint. Vielleicht lacht sie auch, in meiner Erinnerung macht das keinen Unterschied. Sie hebt mich hoch. Ihre Haare riechen nach Küche und Sonntagmorgen. Sie sind lang und blond und ich habe das Gefühl, als könnten sie meinen ganzen Körper bedecken, als könnte ich in Mamas Haaren verschwinden.

Später zogen wir in eine Dachwohnung hinter der Marktstraße. Die Wohnung war eng und niedrig, aber ich konnte die Tauben auf den umliegenden Dächern beobachten. Manchmal ließ sich ein Turmfalke blicken, und in der Abenddämmerung torkelten Fledermäuse über den Schornsteinen wie kleine, betrunkene Schatten.

Ich sammelte Käfer, Fliegen und andere Insekten. Ich versuchte sie lebendig zu fangen und steckte sie in eine kleine Metalldose. Wenn man die Dose ans Ohr hielt, konnte man ihnen beim Sterben zuhören. Dann trockneten sie langsam aus und wurden hart wie Kieselsteine.

Papa ging zur Bank, ich ging zur Schule und Mama legte jeden Morgen vor dem Frühstück unsere Sachen über die Stuhllehnen: einen frischen Anzug für ihn und Hemd und Hose für mich. Sie tat das mit einem merkwürdig verschobenen Lächeln. Fast alles tat sie mit diesem schiefen Lächeln im Gesicht. Ich konnte nicht genau sagen, was es bedeutete, aber ich hatte die Vorstellung, sie sei vielleicht stolz auf uns.

Ich wurde größer, hatte Freunde, interessierte mich für Mädchen, und die Schule machte mir keinerlei Probleme. Alles war, wie es sein sollte. Ich glaubte verstanden zu haben, dass das Leben eine lohnenswerte Angelegenheit war. Ohne zu wissen, wohin er mich führen würde, war ich sicher, den richtigen Weg gefunden zu haben.

Dann geschah etwas. Es war Spätsommer, ich war gerade siebzehn geworden. Wir waren zu dritt und überquerten den Schulhof, eine weite, schattenlose Betonfläche. Vor uns erhob sich das gusseiserne Tor zur Straße. Es war hoch wie ein Einfamilienhaus, schwarz mit goldenen Spitzen, die in der Nachmittagssonne leuchteten. Über den Himmel zog ein Schwarm Seidenschwänze und warf einen flirrenden Schatten auf den Hof. Einige Augenblicke bewegte sich der Schwarm hoch und nieder wie ein Schleier im Wind, ehe er plötzlich hinter dem Schulgebäude absank und verschwand. Es war heiß. Auf dem Beton waren die Kaugummis von Generationen von Schülern weich geworden und klebten bei jedem Schritt unter den Sohlen.

Auf der Straße stand Johannes Storm, ein Junge aus der Nachbarklasse. Er war nicht besonders groß, aber seine Schultern waren breit und kräftig, sein Brustkorb ausladend wie ein Fass. Er hatte einen großen, kindlichen Kopf und kurzes, blondes Haar. Seine Augen standen eng beisammen, und wenn er mit jemandem sprach, konnte er ihm kaum ins Gesicht sehen. Außerhalb der Schule hatte niema