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Ich bleibe hierOverlay E-Book Reader

Ich bleibe hier

Marco Balzano

E-Book (EPUB)
2020 Diogenes
Auflage: 3. Aufl.
288 Seiten
ISBN: 978-3-257-61007-9

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Kurztext / Annotation
Ein idyllisches Bergdorf in Südtirol - doch die Zeiten sind hart. Die Leute werden vor die Wahl gestellt: entweder nach Deutschland auszuwandern oder als Bürger zweiter Klasse in Italien zu bleiben. Trina entscheidet sich für ihr Dorf, ihr Zuhause. Als die Faschisten ihr verbieten, als Lehrerin tätig zu sein, unterrichtet sie heimlich. Und als ein Energiekonzern für einen Stausee Felder und Häuser überfluten will, leistet sie Widerstand - mit Leib und Seele.

Marco Balzano, geboren 1978 in Mailand, ist zurzeit einer der erfolgreichsten italienischen Autoren. Er schreibt, seit er denken kann: Gedichte und Essays, Erzählungen und Romane. Mit seinem Roman ?Das Leben wartet nicht? gewann er den Premio Campiello. Mit ?Ich bleibe hier? war er nominiert für den Premio Strega, in Italien und im deutschsprachigen Raum war das Buch ein großer Bestseller. Er lebt mit seiner Familie in Mailand.

Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

Um bloß nicht uns nehmen zu müssen, stellten sie lieber halbe Analphabeten aus Sizilien und dem ländlichen Venetien ein. Ob die Tiroler Kinder etwas lernten, kümmerte den Duce sowieso herzlich wenig.

Wir drei verbrachten die Tage damit, niedergeschlagen über den belebten Dorfplatz zu schlendern, wo bis zum Abend die Straßenhändler ihre Waren anpriesen und die Frauen sich um die Karren scharten.

Eines Morgens kam uns der Pfarrer entgegen. Er schob uns in eine menschenleere Gasse mit Moosflecken an den Mauern. Wenn wir wirklich unterrichten wollten, sagte er, müssten wir in die Katakomben gehen. In die Katakomben gehen hieß, heimlich Deutsch zu unterrichten. Das war illegal und bedeutete Geldstrafen, Prügel und Rizinusöl. Man konnte sogar auf eine abgelegene Insel verbannt werden. Barbara lehnte sofort ab, Maja und ich sahen uns unschlüssig an.

»Da braucht ihr nicht noch lange darüber nachzudenken!«, drängte uns der Pfarrer.

Als ich es daheim erzählte, fing Mutter an zu schreien, dass ich in Sizilien bei den Negern landen würde. Vater dagegen meinte, es sei eine gute Sache. Eigentlich wollte ich es gar nicht, ich war nie mutig. Aber ich hatte mich dazu entschlossen, um vor Erich zu glänzen. Ich hatte ihn sagen hören, dass er zu den klandestinen Versammlungen ging, sich deutsche Zeitungen besorgte, zu einem Zirkel gehörte, der den Anschluss an Deutschland befürwortete. In den Katakombenschulen zu unterrichten war für mich eine gute Gelegenheit, um ihn zu beeindrucken und gleichzeitig herauszufinden, ob Lehrerin zu werden wirklich das war, was ich im Sinn hatte.

 

Der Pfarrer wies mir einen Keller in St. Valentin und Maja einen Stall in Reschen zu. Gegen fünf Uhr nachmittags machte ich mich auf, da war es schon dunkel. Oder manchmal sonntags vor der Messe, und auch da war es dunkel. Keuchend trat ich in die Pedale, fuhr über Schotterwege, von deren Existenz ich vorher nichts wusste. Wenn sich ein Blatt bewegte oder eine Grille zirpte, erschrak ich fürchterlich. Vor dem Dorf versteckte ich das Fahrrad hinter einem Gebüsch und ging mit gesenktem Kopf weiter, um keinem Carabiniere aufzufallen. Inzwischen kamen sie mir mehr wie Motten vor, diese verfluchten Carabinieri. Ich sah sie überall.

Im Keller von Frau Martha stapelten wir Korbflaschen und alte Möbel aufeinander und setzten uns auf Strohhaufen. Wir sprachen leise, denn man musste auf die Geräusche von draußen achten. Ein paar Schritte im Hof genügten, um uns in Panik zu versetzen. Die Buben waren tapferer, die Mädchen dagegen schauten mich mit flackerndem Blick an. Es waren Siebenjährige, und ich lehrte sie Lesen und Schreiben. Ich nahm ihre Hände und umschloss sie mit meiner Faust wie mit einem Panzer. So half ich ihnen, die Buchstaben des Alphabets nachzumalen, die Wörter, die ersten Sätze. Anfangs schien es aussichtslos, doch dann, von einem Abend zum anderen, konnten sie auf einmal etwas buchstabieren, lasen nacheinander laut vor und fuhren mit dem Finger die Zeile entlang, um ja nicht den Faden zu verlieren. Deutsch zu unterrichten war wunderschön. Es gefiel mir so gut, dass ich manchmal vergaß, eine klandestine Lehrerin zu sein. Ich dachte an Erich, er wäre stolz gewesen, wenn er mich hätte sehen können, wie ich da unten auf ein Stück Schiefer Buchstaben und Zahlen schrieb, die die Kinder abschrieben und gedämpft im Chor wiederholten. Auf dem Heimweg machte ich meine Haare auf, weil die Kopfschmerzen sonst nicht nachließen. Doch selbst das Kopfweh war eine gute Gesellschaft, es lenkte mich von der Angst ab.

 

Eines Abends traten zwei Carabinieri die Türe ein, als ob wir Verbrecher wären. Ein kleines Mädchen fing zu schreien an, die anderen flüchteten sich in die Ecken und drehten sich zur Wand, um nichts zu sehen. Nur Sepp blieb an seinem Platz, ging dann langsam zu einem der beiden hin und beschimpf_te ihn mit einer verhaltenen Wut, die ich nie vergess