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Der StottererOverlay E-Book Reader

Der Stotterer

Charles Lewinsky

E-Book (EPUB)
2019 Diogenes
Auflage: 2. Aufl.
416 Seiten
ISBN: 978-3-257-60957-8

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€ 11,99

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Kurztext / Annotation
Weil er Stotterer ist, vertraut er ganz auf die Macht des geschriebenen Worts und setzt es rücksichtslos ein, zur Notwehr ebenso wie für seine Karriere. Ein Betrug - er nennt es eine schriftstellerische Unsorgfältigkeit - bringt ihn ins Gefängnis. Mit Briefen, Bekenntnissen und erfundenen Geschichten versucht er dort diejenigen Leute für sich zu gewinnen, die über sein Los bestimmen: den Gefängnispfarrer, den Drogenboss, den Verleger.

Charles Lewinsky, 1946 in Zürich geboren, ist seit 1980 freier Schriftsteller. International berühmt wurde er mit seinem Roman ?Melnitz?. Er gewann zahlreiche Preise, darunter den französischen Prix du meilleur livre étranger. ?Der Halbbart? war nominiert für den Schweizer und den Deutschen Buchpreis. Sein Werk erscheint in 16 Sprachen. Charles Lewinsky lebt im Sommer in Vereux, Frankreich, und im Winter in Zürich.

Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

Für den Padre

Entwarnung, Padre. Falscher Alarm. Tut mir leid, wenn Sie sich meinetwegen Sorgen gemacht haben sollten. Alles hat eine harmlose Erklärung gefunden.

Unglaub_lich, wie sich hier im Haus absurde Gerüchte verbreiten! Weil ich die Regale ausgeräumt hatte, um die Bücher vernünftiger zu ordnen, ging die Latrinenparole um, die Bibliothek sei gar nicht geöffnet. Nur deshalb ist die ganze Zeit niemand gekommen. Und dass sich keiner zu mir setzen wollte, hatte einen ebenso einfachen wie unappetit_lichen Grund: Mundgeruch. Kein Wunder, dass Ambros es vorzog, sich nicht mehr mit mir zu unterhalten. Der Idiot hatte Hemmungen, mir einfach zu sagen, was ihn störte. Irgendwann ist er dann doch damit herausgerückt. Ich habe mir jetzt im Gefängnisladen einen Mundspray besorgt, zwei Euro sechsunddreißig, und alles ist okay. Wäre es nicht schön, wenn sich alle Probleme dieser Welt so einfach lösen ließen? (Wenn ich einen Computer zur Verfügung hätte, würde hier ein Emoji stehen. Oder zwei: ein lächelndes und ein erleichtertes.)

So, jetzt aber zurück zu dem, was Sie wirk_lich interessiert: Geschichten. Das nächste Kapitel aus dem Leben eines Taugenichts. Diesmal eine Episode mit rätselhaftem Ende. Man könnte fast sagen: eine Episode, die mit einem Wunder endet. Sie werden sehen.

Ich war damals Anfang zwanzig und hatte von der Welt noch nicht viel mitbekommen. So unerfahren war ich, dass ich ernsthaft glaubte, vom Bafög allein in Berlin leben zu können. Der Auszug von zu Hause war eine Flucht gewesen, ein kleiner Koffer und ein großer Packen väter_licher Verwünschungen. Als Studienfach hatte ich mir Germanistik ausgesucht, in der naiven Vorstel_lung, in den Seminaren würde man gemeinsam tief in die Meisterwerke der Literatur eintauchen. Kleinstadtillusionen. Texte, so brachte man uns bei, waren Objekte, die wir so lang zu sezieren hatten, bis ihre zerschnipselten Gliedmaßen in die vorgegebenen Analysegefäße passten. Wobei unsere Tutoren sich vor allem für die korrekte Gestaltung von Fußnoten interessierten. DIN 5008, in Deutschland gibt es für alles eine Norm. Nachdem ich schon unliebsam aufgefallen war, weil ich bei jeder Arbeit jemanden finden musste, der mein Referat in der Gruppe vorlas, wurde ich endgültig akademisch exkommuniziert, als ich die Todsünde aller Todsünden beging: Ich schrieb doch tatsäch_lich über ein Buch, es habe mir gefallen. Gefallen! Bücher zum Vergnügen lesen statt als Objekte der Dekonstruktion? Apage, unwissenschaft_licher Satanas! Heiliger Derrida, beschütze uns! Kein Bachofen hätte mich donnernder aus der Gemeinschaft der Rechtgläubigen ausschließen können. Wir trennten uns in gegenseitigem Nichteinvernehmen.

Die Suche nach einem Brötchenjob gestaltete sich schwierig. Akkordlaberer für Callcenter und Bierschlepper für Kneipen wurden jede Menge gesucht, aber um sich mit einem dieser Traumjobs die Miete zu verdienen, hätte man in der Lage sein müssen, einen Satz zu Ende zu bringen, ohne bei jeder zweiten Silbe einen Pit Stop einzulegen. Zwei Wochen lang kratzte ich in der Küche eines Edelrestaurants angebrannte Pfannen sauber, mit denen musste man sich wenigstens nicht unterhalten. Bis ich dann auf diese Anzeige stieß, die mein Leben verändern sollte. Sie mit Ihrer rosaroten Theologenbrille würden es wohl Fügung nennen. Ich halte mich lieber an Schopenhauer: »Das Schicksal mischt die Karten, und wir spielen.« Ich habe gut gespielt.

Heute ist diese Branche längst Mainstream geworden. Im Netz existieren Unmengen von Webseiten, auf denen Männlein zu Weiblein, Weiblein zu Männlein und Menschlein in allen mög_lichen Kombinationen zu Menschlein finden. Damals war das etwas Neues und sanft Verruchtes. »Find't seinen Deckel jeder Topf« hätte als Motto über unserem Angebot stehen können, und so ähn_lich, nur weniger shakespearisch, lautete das Versprechen in unseren Anzeigen. Das Problem war nur: Es g