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Die junge BrautOverlay E-Book Reader

Die junge Braut

Alessandro Baricco

E-Book (EPUB)
2017 Hoffmann Und Campe Verlag
220 Seiten
ISBN: 978-3-455-00089-4

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Kurztext / Annotation
Eine anarchische Hymne auf das Schreiben, das Leben und die Liebe Eine Familie in einem alten Gutshaus: Da ist der Vater, der gar nicht der Vater ist. Da ist die bizarr schöne Mutter. Der Onkel, der ununterbrochen schläft. Die hinkende Tochter. Und eines Tages steht die junge Braut in der Tür, die sich dem Sohn versprochen hat - der unauffindbar ist. Sie bleibt bei der Familie und lernt, was es heißt, das eigene Schicksal zu bestimmen. Als sie genau darin die Katastrophe erkennt, rettet sie sich in die Liebe zu dem abwesenden Sohn und in das stoische Warten auf ihn. Doch eines Tages muss sie einsehen, dass sie nicht mehr warten kann. Alessandro Baricco führt uns in eine Welt, die zusammengesetzt ist aus Schicksalen, Geheimnissen, Erwartungen. Es ist ein Experiment: Was, wenn alles immer nur ein und dieselbe Geschichte ist, aus wechselnden Perspektiven erzählt, von verschiedenen Sehnsüchten geprägt, von unterschiedlichen Menschen gelebt?

Alessandro Baricco, 1958 in Turin geboren, studierte Philosophie und Musikwissenschaft. Er ist Mitherausgeber verschiedener Literaturzeitschriften und von La Repubblica. Neben seinen Romanen hat Baricco zahlreiche Essays, Erzählungen und Theaterstücke verfasst, sein Roman Seide wurde zum internationalen Bestseller. Baricco wurde mit dem Premio Campiello, dem Premio Viareggio und dem Prix Médicis Étranger ausgezeichnet. Zuletzt erschienen von ihm bei Hoffmann und Campe Die Barbaren. Über die Mutation der Kultur (2018) und The Game. Topographie unserer digitalen Welt (2019).

Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

Es sind sechsunddreißig Stufen, und der Alte steigt sie langsam hinauf, mit Bedacht, als sammele er sie eine nach der anderen ein, um sie in den ersten Stock zu treiben: er der Hirte, sie fügsame Tiere. Modesto heißt er. Seit neunundfünfzig Jahren dient er in diesem Haus, ist also dessen Priester.

Auf der letzten Stufe angekommen, bleibt er vor dem breiten Flur stehen, der sich ohne Überraschungen vor seinen Augen erstreckt: rechts die geschlossenen Türen zu den Zimmern der Herrschaften, fünf; links sieben Fenster, durch Blenden aus lackiertem Holz verdunkelt.

Der Morgen dämmert.

Er bleibt stehen, der Alte, weil er eine Zählung auf den neuesten Stand bringen muss. Er verzeichnet die Morgen, die er in diesem Haus eingeleitet hat, immer auf dieselbe Weise. Also fügt er eine Größe hinzu, die sich jenseits der Tausender verliert. Die Rechnung ist schwindelerregend, doch das schreckt ihn nicht: von jeher denselben morgendlichen Ritus zu zelebrieren erscheint ihm seinem Beruf gemäß, seinen Neigungen entsprechend und seinem Schicksal wesentlich.

Mit den Handflächen streicht er über den gebügelten Stoff seiner Hose - auf den Hüften, den Oberschenkeln -, dann streckt er den Kopf unmerklich vor und nimmt seinen Weg wieder auf. Die Türen der Herrschaften beachtet er nicht, doch beim ersten Fenster auf der Linken angekommen, bleibt er stehen, um die Blenden zu öffnen. Das tut er mit geschmeidigen, präzisen Bewegungen. Er wiederholt sie bei jedem Fenster, siebenmal. Erst dann wendet er den Kopf, um das Licht des anbrechenden Tages zu beurteilen, das gebündelt durch die Scheiben fällt. Jede der möglichen Nuancen ist ihm vertraut, und an der Eigenschaft des Lichts erkennt er, wie der Tag wird: Manchmal kann er daraus auf vage Versprechen schließen. Da sie ihm vertrauen werden - alle -, ist die Meinung, die er sich bildet, entscheidend.

Verhangene Sonne, leichte Brise, beschließt er. So wird es sein.

Nun geht er durch den Flur zurück, um sich der zuvor unbeachteten Seite zu widmen. Er öffnet die Türen der Herrschaften, eine nach der anderen, und verkündet mit lauter Stimme den Beginn des Tages mit einem Satz, den er jedes Mal wiederholt, ohne Tonfall und Rhythmus zu ändern.

Guten Morgen. Verhangene Sonne, leichte Brise.

Dann verschwindet er.

Es gibt ihn nicht mehr, bis er im Frühstücksraum wieder auftaucht, unverändert.

 

Die Gepflogenheit dieses feierlichen Erwachens, welches sich später festlich und ausgedehnt gestaltet, geht auf ferne Begebenheiten zurück, deren Einzelheiten vorerst lieber verschwiegen werden. Sie betrifft das gesamte Haus. Nie vor Tagesanbruch, das ist zwingend. Sie warten auf das Licht und Modestos Tanz vor den sieben Fenstern. Erst dann erachten sie die Verdammnis des Bettes, die Blindheit des Schlafs und die riskante Wette der Träume für beendet. Die Stimme des Alten bringt sie, die Toten, zurück ins Leben.

Nun schwärmen sie aus den Zimmern, ohne sich anzukleiden, übergehen sogar die Erfrischung, die ein wenig Wasser auf den Augen, in den Händen bietet. Die Gerüche des Schlafs noch in den Haaren und zwischen den Zähnen, treffen wir in den Fluren, an der Treppe, beim Verlassen der Zimmer aufeinander, umarmen uns wie Verbannte, die aus fernen Ländern zurückkehren, ungläubig staunend, dass wir dem Zauberbann entronnen sind, denn als ein solcher erscheint uns die Nacht. Versprengt durch den erzwungenen Schlaf, setzen wir uns wieder als Familie zusammen und strömen in den großen Frühstücksraum wie ein unterirdischer Fluss, der nun ans Licht gekommen ist, das Meer vorausahnend. Meistens lachen wir dabei.

 

Ein reich gedecktes Meer ist er wirklich, der Tisch der Frühstücke - niemandem ist es je eingefallen, dieses Wort im Singular zu benutzen, nur ein Plural kann seinen Reichtum, seine Überfülle und unvernünftige Dauer wiedergeben. Die heidnische Bedeutung der Dank



Annette Kopetzki, geboren in Hamburg, war Lektorin für deutsche Literatur in Italien und promovierte über literarische Übersetzung. Veröffentlichungen und Seminare über interkulturelle Germanistik und Übersetzungstheorie.

Alessandro Baricco, geboren 1958 in Turin, wird in Italien nach dem Sensationserfolg "Seta" (auf deutsch "Seide", 1997) endgültig als Kultautor und Medienphänomen gefeiert. Er veröffentlichte zunächst Musikkritiken in den wichtigsten italienischen Tageszeitungen. Seine Popularität begann mit der literarischen Fensehsendung "Pickwick", die er bis 1994 leitete. Dort stellte er mit großem Erfolg ausschließlich seine Lieblingsbücher vor, die vornehmlich aus Klassikern der Weltliteratur bestanden. Ähnlich ambitioniert ist seine Gründung der "Kreativitätsuniverität" in Turin, die angehenden jungen Autoren eine fächerübergreifende Ausbildung ermöglicht.
Seine verspielt literarischen Romane "Castelli di rabbia" (auf deutsch "Land aus Glas, 1991) und "Oceane mare" (1993) waren zunächst noch Geheimtips, gehören jedoch inzwischen nach "Seta" zu den auflagenstärksten Dauersellern der italienischen Gegenwartsliteratur.